Hirschgulasch
eine speckige Spur hinterlassen und mit der Zeit alle
Stolpersteine aus dem Weg geräumt. Immer wieder sind Schneefelder zu
überqueren, von denen keiner weiß, wie tief die Senken sind, die sie bedecken.
Eine schmutzig braune Linie zieht sich durch den weißen Schnee bis zu einem
Felsufer, das man durch einen kleinen Sprung über den Spalt zwischen Stein und
Schnee erreicht. Die Tiefe des Spalts kann man nur erahnen.
Bertl legt den Finger auf den Mund und deutet in die Richtung, in
der der Watzmann seinen Gipfelgrat präsentiert. Eine Gamsherde hält dort, keine
fünfzig Meter von ihnen entfernt, gerade Mittagsruhe. Etwa zwanzig Tiere liegen
auf einer Schneefläche und dem sie umgebenden Fels und genießen offenbar die
Kühlung von unten. Sie beachten das Trio mit seinem Bergführer nicht.
»So, wir sind da, an unserem ersten Einstieg. Jetzt geht’s ans
Abseilen«, sagt Bertl schließlich. »Jeder zieht sich jetzt den Klettergurt an,
dann üben wir das Sichern.« Er fixiert sein Seil an einer fest installierten
Bohrlasche. »Wenn schon eine Bohrlasche da ist, nimmt man natürlich die zum
Sichern, man muss halt vorher ein bisschen schaun. Aber natürlich prüfen, ob
sie hält, bevor ihr euer Leben dranhängt.«
Das Einlegen des Seils in den Abseilachter und den Petzl Grigri gehört
nicht zum Spannendsten, was es zu erfahren gibt, doch Bertl besteht auf Üben,
Üben und nochmals Üben, und erst als sie alle drei diese Abseilhilfen blind
bedienen können, geht es gut gesichert hinunter zum Höhleneinstieg. Für normale
Wanderer leicht zu übersehen, liegt er in einer von zwei Gesteinsblöcken
verstellten Nische in einer Felswand. Die Rucksäcke deponieren sie vor dem Einstieg.
Nur etwa einen halben Meter ist der Zugang breit und circa eineinhalb Meter
hoch.
»Jetzt die Arschbacken zusammengekniffen«, raunzt Wiktor.
»Stirnlampen anschalten«, rät Bertl, »iatzt werd’s richtig duster.«
Verona, 20. Mai 2010
Seine Mutter hat ein Faible für die Restaurants in der Altstadt.
Gehobene Gastronomie. Dort, wo die Touristen zum Glück normalerweise nicht
hinkommen, weil die Speisekarte nur auf Italienisch aushängt und auch die
Preise darauf schließen lassen, dass es sich nicht um einen Schnellimbiss
handelt. Das »Ristorante 12 Apostoli« weiß, was es seinen Stammgästen
schuldig ist, und sie bedanken sich mit ewiger Treue dafür. Um eins ist er mit
seiner Mutter dort verabredet.
Luigi ist ein bisschen spät dran, und jetzt muss er sich auch noch
über die Piazza delle Erbe durch Gruppen von Busreisenden kämpfen, die vom Dom
kommen, sich über die Piazza zur Via Cappello voranarbeiten, angeführt von
ihren Reiseleitern, die wahlweise ein rotes Käppi oder einen bunten Strohhut
tragen oder mit einem roten Knirps in der Luft herumfuchteln, damit sie ihre
Schäfchen im Getümmel nicht verlieren. Luigi drückt sich eng an den Fassaden
der mittelalterlichen Palazzi und Wohnhäuser entlang, denn zwischen den Marktständen,
am Brunnen und um die Marmorsäule mit dem venezianischen Löwen herum gibt es
überhaupt kein Vorwärtskommen.
In der Via Cappello, wo das Haus mit dem angeblichen Balkon der
Giulietta steht, ist das Gedränge noch schlimmer. Liebende aus der ganzen Welt haben
Briefchen mit ihren Wünschen und Sehnsüchten an die Fassade des Hauses geklebt,
das erst im vorigen Jahrhundert seinen berühmten Balkon angebaut bekam, damit
die Verona-Touristen tatsächlich den Ort finden können, an dem Romeo
schmachtete.
Luigi ist es gelungen, von der Piazza in die Via Pellicciai zu
gelangen. Er will eben in das kleine Gässchen einbiegen, in dem das »Ristorante
12 Apostoli« liegt, als ihn jemand von hinten packt, mit einem für einen
Taschendieb erstaunlich kräftigen und entschlossenen Griff. Während er ihm mit
einer Hand den Mund zuhält, dreht er ihn mit der anderen zu sich und versetzt
ihm einen Schlag in die Magengrube, der Luigi in die Knie gehen lässt. Das
Mund-Zuhalten wäre gar nicht nötig gewesen, denn er bricht schneller zusammen,
als er auch nur einen Seufzer ausstoßen kann.
Als Luigi nach einigen Sekunden – oder waren es Minuten,
Stunden? – wieder zu sich kommt, hat der Fremde ihn untergehakt und
schleift ihn halb aufrecht, wie einen Betrunkenen, durch die Gasse. Er redet in
einer fremden Sprache auf ihn ein, für Luigi hört es sich an wie Russisch. Ihm
ist so schlecht, dass er nicht antworten, nicht sagen kann, dass er kein Wort
versteht. Er weiß nicht, was hier vor sich geht. Nicht
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