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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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Verona, und eigentlich wollte er mit seiner Mutter zu
Mittag essen. Zu den »12 Aposteln«, ein wirklich feines Lokal.

Berchtesgaden, 20. Mai 2010
    Schlüsselstellen nennt man beim Klettern die schwierigsten Stellen einer
Route, die Crux, die den Schwierigkeitsgrad der ganzen Route, so leicht sie
auch sonst sein mag, bestimmt. An der Schlüsselstelle geht es an die
persönlichen Grenzen und für manchen darüber hinaus. Kann sie nicht überwunden
werden, dann ist die Schlüsselstelle zugleich Schlusspunkt. Wird sie trotz oder
gerade wegen der grenzwertigen Empfindung überwunden, dann bedeutet das einen
persönlichen Triumph für den Kletterer, und die Schlüsselstelle wird zum
Meilenstein.
    »Und wie soll ich jetzt da rüberkommen?« Marjana steht wieder an
derselben Schlüsselstelle, an der ihr die letzten Tage Bertl beim
Abseiltraining den Gurt angelegt und sie am Seil hinübergeführt hat. Mit dem Unterschied,
dass sie dieses Mal allein sind, ohne den erfahrenen Bergführer, dem es selbst
gelungen wäre, ein Kamel über die Stelle zu führen.
    »Du bist mittlerweile schon ganz andere Strecken geklettert, das
sind doch jetzt nur noch Peanuts für dich«, redet Wiktor ihr zu.
    Marjana geht bis zum Fels, hält sich an der Sicherung fest und setzt
sich hin. »Nein, das ist etwas ganz anderes. Das Abseilen ist eigentlich nicht
schwer. Und in einer Höhle ist es dunkel, da kann ich nicht sehen, wie weit es
runtergeht. Aber hier? Wir müssen Bertl anrufen.«
    »Das meinst du jetzt aber nicht ernst, oder?« Luba sieht sie fassungslos
an. »Abgesehen davon, dass Bertl wahrscheinlich gerade eine andere hysterische
Ziege an der Backe hat, warten wir hier doch nicht zwei Stunden, bis er
herkommt, dich fünf Minuten an die Leine legt und dann wieder zurückmarschiert.
Wiktor, du legst ihr jetzt den Gurt an, nimmst sie am Seil, und aus die Maus.
Wir sind doch hier nicht im Kindergarten.«
    »Nein, das geht nicht. Wiktor hat ja selbst keine Ahnung. Gestern
hat er beim Abseilen nicht mal einen Achterknoten geschafft. Wenn Bertl nicht
im letzten Moment gesehen hätte, dass er nur eine Laufmasche geknotet hat, dann
wäre Wiktor den Schacht hinuntergesegelt wie eine Sojus-Kapsel ohne Fallschirm
und Hitzeschild.«
    »Erstens heißt das Luft- und nicht Laufmasche, und zweitens weiß ich
jetzt ganz genau, wie dieser Knoten funktioniert. Also, hopp!«
    Eine Stunde später stehen sie am Einstieg zu einer Trichterhöhle.
Luba hält die Karte in der Hand.
    »Ich glaube, das ist der Trichter, der auf unserem Plan eingezeichnet
ist. Wir müssen hier hinuntersteigen, dann ein paar Meter nach rechts, und dann
müsste der eigentliche Eingang zur Höhle kommen.«
    »Nein, das kann nicht sein.« Wiktor sieht ihr über die Schulter.
»Schau die Karte mal richtig an. Alexej hat Eis am Eingang eingezeichnet, und
hier ist nirgendwo Eis. Ich glaube, wir müssen noch weiter nach Westen.«
    »Ach, du wieder. Oberschlau und maximal bergerfahren. Noch nie etwas
von Klimakatastrophe und Gletscherschwund gehört?«, fragt Luba. »Das Eis gibt
es einfach nicht mehr. Vor fünfundsechzig Jahren war da vielleicht noch ein
Eispanzer, aber jetzt ist er eben weggeschmolzen. Außerdem war Alexej sechs
Wochen früher dran als wir. Wir haben jetzt Ende Mai. Ich glaube, wenn hier
wirklich so dickes Eis wie auf der Karte eingezeichnet liegen würde, dann wären
wir falsch. Hier sind wir richtig, um nicht zu sagen goldrichtig.«
    »Ich würde sagen, wir gehen jetzt einfach rein«, entscheidet Marjana
die Sache. »Wenn es dort wirklich eine Höhle gibt, dann gehen wir weiter. Wenn
nicht, wandern wir zum nächsten Trichter.«
    Sie steigen in den Trichter ein und stoßen auf einen schmalen Pfad,
auf dem sie weitergehen. Nach zwanzig Metern sagt Luba: »Die Höhle müsste
längst da sein. Ich finde, wir sollten keine weitere Zeit verschwenden und
umkehren.«
    »Zwanzig Meter gehen wir noch«, sagt Marjana.
    »Hier!« Wiktor entdeckt eine schmale Öffnung ins Felsinnere.
    »Leuchte mal rein.« Luba drückt ihm ihre Taschenlampe in die Hand.
Der Lichtkegel leuchtet einen fast runden Hohlraum von zwei, drei Metern
Durchmesser aus. Nach unten ist er offen. Sie kriechen an den Rand der Öffnung,
leuchten hinunter in einen nicht allzu tiefen Schacht. Wie es von dort aus
weitergeht und ob es überhaupt weitergeht, ist von oben nicht zu erkennen.
    »Halt bloß die Taschenlampe fest«, sagt Marjana. »Sie ist das Wertvollste,
was wir hier haben. Ohne genügend Licht würde ich es

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