Hirschgulasch
Rucksack verstaut, sodass er nicht mehr von einem ganz normalen
Wanderer zu unterscheiden ist. In zwanzig Minuten erreicht er von seinem
Versteck aus die ins Tal hinabführende Dalsenwinkelstraße.
Berchtesgaden, 23. Mai 2010
Marjana macht den letzten Stoß zum Beckenrand und nimmt die
Schwimmbrille ab. Sie dreht sich auf den Rücken, hängt sich mit den Armen am
Rand ein und entspannt sich. Beim Wassertreten betrachtet sie ihre
Oberschenkel, und es kommt ihr so vor, als seien sie etwas straffer geworden in
den letzten beiden Wochen. Kein Wunder bei den Strapazen. Sie hat es
aufgegeben, die Höhenmeter mitzuzählen, die sie täglich rauf- und
runtersteigen, und mittlerweile hat sie sich an den Dauermuskelkater gewöhnt.
Es gibt nichts Besseres dagegen als diesen luxuriösen Pool und die Sauna. Außer
vielleicht Sex. Aber selbst dafür wäre sie jetzt zu müde.
Sie sieht zur Fensterfront hinüber. Es dämmert. Die Sonne ist hinter
einem der stummen Berge untergegangen, und ihr ist, als habe sich draußen etwas
bewegt. Ein Schatten, vielleicht ein Nachtvogel, der vorbeigeflattert ist.
Vermutlich zieht das letzte Licht, das sich auf der Wasseroberfläche des Pools
bricht, Insekten an. Doch als sie sich aufrichtet und nach ihrer Schwimmbrille
greift, ist sie sich sicher: Da ist jemand am Fenster. Eine große, klobige
Gestalt. Sie kann nur seine Umrisse erkennen, aber sie meint augenblicklich,
das Herz müsse ihr stehen bleiben.
Die Eingangstür zur Schwimmhalle öffnet sich, und der junge Kellner
mit dem nach allen Seiten abstehenden Haar bringt die Getränke.
»Wo möchten Sie Ihren Drink einnehmen? Hier vielleicht?« Er steuert
auf einen Tisch zwischen den Ruheliegen zu.
»Warten Sie, ich komme raus.« Marjana steigt rasch aus dem Becken
und greift nach ihrem Handtuch. Ein schneller Blick zum Fenster, und sie stellt
fest, dass die Gestalt nicht mehr da ist. Marjana atmet tief durch und zählt im
Geist bis drei, um ihr Herzklopfen zu beruhigen. »Ja, stellen Sie es bitte hier
ab«, sagt sie, hängt sich das Handtuch nachlässig um die Schultern. »Und sehen
Sie doch bitte gleich mal dort hinaus. Da war ein Mann am Fenster. Ich bin
furchtbar erschrocken.«
Der junge Kellner verspricht, sich darum zu kümmern. Marjana nimmt
einen Schluck von ihrem Longdrink und beobachtet mit immer noch erhöhtem Puls,
wie sich der Lichtkegel einer Taschenlampe draußen am Fenster entlangbewegt. Er
verschwindet nach rechts, und Marjana stürzt den Rest ihres Ginfizz hinunter.
Der Kellner kommt wieder herein. »Sie können beruhigt sein, ich habe
niemanden gesehen.«
Marjana hat keine Lust mehr, in die Sauna zu gehen, und holt ihre
Sachen. Hinter der Fensterfront ist nichts zu sehen als Dunkelheit.
Ein harmloser Spanner, redet sie sich auf dem Weg zu ihrem Zimmer
ein. Und wahrscheinlich hatte er es nicht einmal auf mich abgesehen.
Als sie den Gang zum Seitenflügel betritt, hört sie Schritte hinter
sich. Vielleicht Wiktor oder Luba, denkt sie, aber als sie sich umdreht,
erkennt sie die Silhouette sofort wieder. Der Mann, der draußen an der
Fensterwand stand.
Sie rennt los, dreht noch einmal den Kopf und sieht, wie auch der
Koloss zum Spurt ansetzt. Noch hat das Wettrennen nicht begonnen, aber von
Physik und Mathematik her dürfte alles entschieden sein, eine einfache
Rechnung. Selbst wenn Marjana es schaffen sollte, als Erste an ihrer Zimmertür
zu sein, hat sie noch lange nicht gewonnen. Sie muss die Magnetkarte in den
Schlitz stecken und wieder entnehmen. Der Mechanismus muss funktionieren. Sie
muss die Tür öffnen und dahinter verschwinden, die Tür ins Schloss werfen und
verriegeln. Erst dann ist sie in Sicherheit. Schreien, um Hilfe rufen kostet zu
viel Zeit. Jeder Blickkontakt macht den Verfolger schneller und bremst den
Verfolgten. Es gibt nur eins, schneller zu sein, schneller, als sie je gewesen
ist.
Fünfzehn Schritte trennen Marjana von ihrem Zimmer, vierzig Schritte
den Verfolger von ihr. Dreimal pro Sekunde zuckt Marjanas Halsschlagader,
versucht ihr Herz genügend Blut und Sauerstoff in jede Muskelfaser zu pumpen,
Notbetrieb, Ausnahmezustand. Ein Spiel, das kein Körper zu oft verträgt. Alles
ausgereizt, alles am Limit. Doch der Versuch, einer lebensbedrohlichen Gefahr
zu entkommen, rechtfertigt es, ans Limit zu gehen und den Kollaps zu riskieren.
Noch zehn Schritte trennen Marjana vom Zimmer. Sieben. Fünf. Drei.
Sie hört die polternden Schritte des Muskelmanns hinter sich, widersteht der
Versuchung, sich
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