Hirschgulasch
es nicht war. Er ist
ihnen gefolgt bis zur Höhle, hat sich nach ihnen abgeseilt und ist abgestürzt.
Anders kann es nicht gewesen sein.
Der Verfolger hatte nicht unsere Karte, aber er muss gewusst haben,
an welcher Stelle wir eingestiegen sind. Er hat uns genau beobachtet und den
richtigen Einstieg in den Trichter gefunden. Was er nicht gewusst hat und nicht
sehen konnte, waren die versteckten Tritte und Griffe, die wir von Alexejs
Karte kannten. Ohne Plan findet man diese Tritte nicht, und auch den Eingang
zur Kaverne, über die man nach unten kommt, ohne sich senkrecht abseilen zu müssen,
findet man nicht im Licht einer einzelnen Stirnlampe. Dazu müsste man schon den
Eingang mit starken Scheinwerfern beleuchten. Wiktor weiß, dass er so nicht
einschlafen wird, aber er kommt von seinem Gedankenkarussell nicht herunter. Es
ist so wichtig. Er will verstehen, was da passiert ist. Er muss.
Der Mann hat geschrien und geschrien, und dann war es still. Er ist
tot, ganz sicher. Wir haben ja gesehen, wie tief die Höhle hinter dem Einstieg
ist, das überlebt keiner. Der Tod des Verfolgers muss die Freude der Verfolgten
sein. Aber Wiktor hat keine Freude gesehen, nicht bei Luba, nicht bei Marjana,
und er selbst hat sie auch nicht gespürt. Nur Schrecken. Der Schrei war ein
Schock.
Wer war er? Wer war ihr Verfolger? War es der narbige Kerl aus Frankfurt,
den er, ohne es zu wissen, geprellt hatte? Oder war es der mysteriöse
Beobachter, dem Marjana im Pool und später vor ihrem Zimmer begegnet ist? Dann
hätte Jurijs Satellit uns also fast geschnappt. Aber warum ist er abgestürzt?
Jurijs Leute fürs Grobe sind Profis. Da ist keiner dabei, der sich abseilt,
wenn er das nicht beherrscht. Er hat uns beobachtet, und vielleicht hat er
sogar gewusst, dass wir heute einsteigen. Vielleicht hat dieser Kerl
mitgekriegt, welches Ding wir vorhaben. Hat uns womöglich sogar abgehört,
zumindest solange wir im Interconti waren, bis wir wegen der unheimlichen
Spannergeschichte – wegen ihm – Hals über Kopf in die kleine
Ferienwohnung umgezogen sind. Vielleicht hat er auch längst herausgefunden,
wohin wir uns verkrochen haben.
Sobald er uns auf den Fersen war, war es leicht für ihn zu erraten,
dass wir in eine Höhle einsteigen werden. Er hat sich die nötige Ausrüstung
besorgt, und dass er uns körperlich weit überlegen ist, das ist keine Frage.
Aber Jurijs Mann für besondere Einsätze, der hätte bestimmt mit verbundenen
Augen über das Tragseil der Golden Gate Bridge balancieren können. Der hätte
uns gehabt, todsicher, und zwar heute noch. Er wäre uns nachgeschlichen, bis
wir ihn zum Schatz geführt hätten, dort hätte er uns kaltgemacht und dann Jurij
die Beute übergeben. Also haben wir Schwein gehabt. Der Schrei hat Sekunden
gedauert, und jetzt ist der Satellit verglüht auf seiner Bahn, aber warum?
Unseren Weg hat er nicht gefunden, der ist ohne Karte nicht zu
finden, und wir haben keine Spur hinterlassen. Er sieht also, dass es sehr weit
senkrecht nach unten geht, hundert Meter mindestens, und ein so langes Seil hat
er sicher nicht dabei. Vielleicht hat er gedacht, dass wir das lange Seil hier
schon früher deponiert hatten. Vielleicht hat er oben weiter nach einem
Seitengang gesucht. Er sieht, wie weit es nach unten geht. Klettern geht nicht,
nur abseilen, und er weiß, er kann eigentlich nur noch aufgeben, umkehren, ein
entsprechend langes Seil holen und damit wiederkommen. Eigentlich waren wir ihm
also schon entkommen. Warum stürzt er ab?
Es war kein Unfall, es kann kein Unfall gewesen sein. Ein Seil reißt
nicht einfach so. Es gibt eigentlich nur eine Erklärung. Da muss noch eine
zweite Person gewesen sein, eine, die sowohl uns als auch unseren Verfolger im
Visier hatte. Während wir hier Ochsengulasch essen und in der Disco unangenehm
auffallen, werden wir von zwei verschiedenen Seiten pausenlos überwacht.
Ein leises Schnarchen ist alles, was hier im Berginneren jetzt zu hören
ist. Eine seiner Begleiterinnen muss eingeschlafen sein. Hoffentlich Luba, und
hoffentlich hat sie vergessen, ihren Wecker zu stellen, damit er noch ein
bisschen Zeit zum Nachdenken hat. Der Zustand zwischen Wachen und Traum ist für
Wiktor ausreichend, um weiter auf seinem Karussellrund, seinem Teufelsrad zu
bleiben.
Physisch und an krimineller Energie haushoch überlegene Verfolger
haben uns die ganze Zeit beobachtet. Und wir, ahnungslos wie Blaualgen in einem
Wassertropfen, die unter dem Mikroskop beobachtet werden, waren
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