Hirschgulasch
ein spannendes
Studienobjekt. Unsere Beobachter überlegten wahrscheinlich schon, wann und wie
sie uns in Wachs gießen und in Scheiben schneiden würden. War das nicht schön,
so unbeschwert über die Berge zu klettern, sich über das Panorama und die
Fortschritte zu freuen, die wir gemacht haben? Und unsere kleinen Sorgen,
unsere läppischen Händel miteinander, während uns von außen, von uns völlig
unbemerkt, jederzeit der Tod drohte?
Das Karussell dreht sich mit einem Mal schneller und schneller.
Wiktor driftet weg, sein Oberkörper pendelt zur Seite, er spürt es, fängt die
Bewegung ab und richtet sich im Sitzen wieder auf. Er will noch ein bisschen
nachdenken, diesen flirrenden, wirren Gedanken nachspüren und der Wahrheit auf
die Spur kommen.
Jurijs Kettenhund war also jemandem im Weg. So muss es gewesen sein.
Er hat den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als ihn das hässliche Gesicht
des Frankfurter Falschgeldhändlers aus dem Dunkel heraus anspringt wie ein
Puma. Dessen schnarrendes Gelächter hallt in seinem Kopf wider, dass er die
Hände schützend auf die Ohren legt. Aber es lacht in seinem Kopf weiter. Und
nun sieht er auch die Szene genau vor sich, als wäre er dabei gewesen und nicht
schon unten im Berg.
Als Jurijs Söldner im Trichter verschwindet, sieht Narbengesicht
sich den Einstieg aus der Nähe an und wittert seine Chance. Er macht sich an
Wladimirs Seil zu schaffen, löst es, schneidet es durch und hat einen
Konkurrenten oder einen Feind weniger. Wenn es so war, dann müssen wir uns
nicht vor ihm fürchten, solange wir im Berginnern sind, denn er wird uns nicht
finden. Er ist nicht der Mann, der sich hier hereinwagen würde. Gefährlich wird
es erst, wenn wir wieder im Freien sind.
Oder es war anders, ganz anders? Jurijs Mann hängt im Seil und sieht
ein, dass er aufgeben muss, weil sein Seil zu kurz ist, und als er sich daran
macht, wieder hinaufzuklettern, spürt er, wie jemand sich an seinem Seil zu
schaffen macht. Kommt wirklich nur von Reichenberg in Frage? Hätte der es
überhaupt hier heraufgeschafft, oder hätte er nicht lieber bequem unten
gewartet, bis wir ihm wie einem Jäger am Hochsitz vor die Flinte laufen?
Die Schweizer Höhlenforscher! Was, wenn die so harmlos wirkenden
Schweizer doch nicht so harmlos waren? Jeder weiß, dass hinter den meterdicken
Stahltresortüren in der Schweiz viele Geheimnisse schlummern. Wahrscheinlich
werden nirgendwo auf der Welt größere Geheimnisse aufbewahrt als in der
Schweiz. Was wenn diese Schweizer erst zu Höhlenforschern geworden sind,
nachdem sie in ihrer Heimat auf Hinweise zu unserem Schatz gestoßen sind? Wenn
das kein Zufall war, dass sie sich in die gleiche Höhle verirrten wie wir? Und
wenn sie genau wie wir weitergesucht haben? Vielleicht waren sie auf der Lauer
gelegen, haben gesehen, wie uns ein Verfolger in die Höhle nachstieg?
Vielleicht wollten sie ihn nicht ermorden, doch als sie ihr Versteck aufgaben
und die Randkluft genauer in Augenschein nahmen, bemerkten sie, dass er wieder
heraufkam, und sie kappten das Seil, aus Furcht oder auch eiskalt und gezielt.
Ratsch! Und der Stern fällt vom Himmel. Die Schweizer müssten nicht aufgeben.
Sie haben die Ausrüstung und wissen damit umzugehen.
Einen Augenblick zweifelt Wiktor, ob die Gefahr durch einen
Verfolger wirklich gebannt ist, doch er wischt den Zweifel beiseite.
Stundenlang sind sie nun schon unterwegs, Dutzende Male hätten sie sich ohne
Karte in diesem Labyrinth von Seitengängen, Schächten und Kesseln schon
verirrt. Und ein bisschen Glück braucht man sowieso jeden Tag, damit einem kein
Satellit auf den Kopf stürzt. Und wer weiß, vielleicht haben sie ja auch eine
Unterstützung aus dem Jenseits. Niemals würde er so etwas sagen, aber manchmal
hat er genau dieses Gefühl.
»Hey, aufwachen, die zwanzig Minuten sind um«, schreit Luba, hält
Wiktor ihre Armbanduhr unter die Nase und klopft mit dem Fingernagel darauf.
»Gib mir noch fünf Minuten, du Grausame. Die brauch ich zum
Aufwachen«, grunzt Wiktor.
»Wenn du nicht aufstehst, gehen wir ohne dich.«
Wiktor öffnet ein Auge und sieht Luba über ihm stehen. Marjana
dagegen liegt immer noch auf dem Boden und schläft eingerollt wie ein Fuchs.
»Dann weck mal unsere Freundin auf. Bis sie wach ist, bin ich auch
so weit«, verspricht Wiktor.
Als sie sich schließlich mit Wurst und Schüttelbrot und einem Schokoriegel
gestärkt haben und wieder marschbereit sind, hat Wiktor seine Gedanken aus dem
Wachtraum
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