Hirschgulasch
sortiert. Er überlegt, ob er mit Luba und Marjana darüber sprechen
soll. Sie sind fast zu Tode erschrocken, als sie den endlos langen Schrei
hörten. Hastig sind sie weitergegangen, jeder von ihnen mit seiner Angst,
seiner Unruhe allein, nachdenkend, grübelnd. Aber dann schien es ihm, als habe der
Forscherdrang, das unbedingte Findenwollen bei seinen Begleiterinnen langsam
die Oberhand gewonnen. Er wartet, ob eine von ihnen noch einmal von dem Schrei
anfängt, dann will er ihnen seine Schlüsse mitteilen. Aber entweder sind die
beiden Meisterinnen der Verdrängung, oder sie haben im Schlaf einen
Gedächtnisschwund erlitten. Oder das Klondike-Fieber hat sie so fest im Griff,
dass alles andere dagegen verblasst.
Obwohl es kurz darauf wieder steil nach unten geht, seilen sie sich
dieses Mal nicht an, um schneller vorwärtszukommen. Sie gelangen in eine große
Halle, die etwa hundert Meter hoch ist. Nachdem sie die Halle durchquert haben,
stürzt der Hauptgang fast senkrecht ab, doch im Plan ist zu erkennen, dass sie
sich über einen Felsvorsprung am Abgrund vorbeitasten und dann in einen kleinen
Seitengang kriechen müssen. Von dort sind es nur noch wenige Meter bis zum
Stollen, wenn der Plan stimmt.
»Es stimmt, es stimmt alles ganz genau!«, schreit Luba, als der
kleine Gang abzweigt. »Drei, zwei, eins: jetzt!«
Sie springt als Erste durch die Öffnung in den Stollen und steht
zwanzig Zentimeter tief im Wasser.
»Scheiße!«, schreit Marjana hinter ihr. »Hier ist es ja total nass.
Mir läuft das Wasser oben in die Stiefel rein.«
Was sie im Schein ihrer Stirnlampen erkennen, sieht aus wie eine
riesige unterirdische Pfütze. Wiktor, der noch oben am Ende des Ganges steht,
zieht seine Taschenlampe aus der Jacke und leuchtet den Boden ab, dann den Raum
darüber.
Sie sind tatsächlich in einem von Menschen angelegten Stollen angekommen.
Dreißig Meter hoch ist diese Kaverne im Fels und so groß, dass sie mit Lkws
befahrbar wäre. Wiktor steigt ebenfalls hinunter und flucht dabei vor sich hin.
»Verdammtes Wasser, verdammte Kälte, verdammter Berg, Scheißgold.«
»Sag mal, bist du jetzt total durchgeknallt? Wir sind am Ziel, Mann!
Gleich werden wir sehen, wie reich wir geworden sind.« Marjana boxt ihn in die
Seite.
»Mir ist kalt, ich bin nass, alle Glieder tun mir weh, und außerdem
bin ich saumüde«, jammert Wiktor.
»Jetzt reiß dich mal zusammen, du Memme«, sagt Luba. »Das wird ja
immer schlimmer mit dir.«
Sie waten durch das Wasser, und im Lichtkegel taucht ein erstes Holzregal
auf. Es ist riesig. Zwanzig Meter hoch, mit gigantisch tiefen Fachböden.
»Dass die Nazis immer alles so überdimensioniert bauen mussten. Sieht
ja übertrieben groß aus«, sagt Luba.
Der Stollenboden steigt leicht an und ist endlich wieder trocken.
Die drei haben so viel Adrenalin im Körper, dass sie gar nicht daran denken,
die Schuhe auszuziehen und die nassen Socken zu wechseln. Selbst Wiktors
Stimmung schlägt bei diesem Anblick um. In dem Regal liegen, unter Planen
verborgen, irgendwelche technischen Teile.
»Achtung!«, ruft Marjana und zieht an einer der Planen. Ein riesiges
Rohr mit einem Durchmesser von mindestens zehn Metern an der breitesten Stelle
kommt zum Vorschein. Es verjüngt sich nach vorne; außen ist es weiß lackiert,
mit einem Hakenkreuz versehen und mit einer Zahlenkennung beschriftet.
»Kacke«, sagt Luba, »was sollen wir denn mit diesem Schrotthaufen?«
»Wahnsinn! Haben sie es also doch gebaut!«, sagt Wiktor aufgeregt.
»Habt ihr eine Ahnung, was das hier ist? Nein, habt ihr wahrscheinlich nicht.
Ich sag euch, was hier vor euch steht. Das ist das Aggregat 10! Das ist
sie tatsächlich. Die fertige Amerika-Rakete.«
Er läuft zum Regal, reißt die Plane herunter, bis die Spitze der
Rakete sichtbar wird, die mindestens dreißig Meter lang ist, dann die Kapsel
mit vermutlich mehreren Sprengköpfen und Platz für einen Navigator.
»Sie hatten sie wirklich fertig! Bestimmt mussten Tausende von
Arbeitern, die an der Umsetzung der Pläne gearbeitet haben, dafür sterben. Und
der Pilot, der in dieser Kapsel gesessen wäre, hätte wohl auch keine Chance
gehabt, den Anflug auf New York zu überleben.«
»Wieso?«, fragt Marjana.
»Die Landungsmechanismen waren nicht ausgereift genug.«
»Was heißt das denn?«
»Dass es ein Himmelfahrtskommando war. Das heißt es.«
»Hey, habt ihr zwei sie noch alle?«, fragt Luba. »Was interessiert
mich denn deine Amerika-Rakete? Dafür bin ich doch
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