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Hirschkuss

Hirschkuss

Titel: Hirschkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
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beizuwohnen.
    Während der Messfeier hatte Anne sich in die letzte Reihe der Kirchenbänke gesetzt. Direkt über ihr schmückte ein prachtvolles Gemälde, auf dem eine Frau mit Lockenhaar und einem aufgeschlagenen Buch zu sehen war, den Plafond. Von diesem Platz aus konnte Anne die Teilnehmer der Trauerfeier genau beobachten. Die Klosterkirche war bei Weitem nicht voll besetzt, Josef Hannawald schien am See nicht über die Maßen beliebt gewesen zu sein. Natürlich waren seine Kollegen Uli Zernet und Leonhard Soder anwesend, man hatte sie eigens dafür von der Untersuchungshaft beurlaubt. Anne glaubte auch, Hannawalds Frau, seine Eltern oder Schwiegereltern und seine beiden halbwüchsigen Söhne identifiziert zu haben.
    Die Zeremonie verlief ohne Zwischenfälle. Als Anne nach der Predigt den anderen Beerdigungsgästen hinaus zum Friedhof folgte, fiel ihr auf, dass ihr einige Sätze des Pfarrers im Gedächtnis geblieben waren: »Schweigen ist eine andere Art zu sagen, was man sagen will. Lügen ist eine andere Art zu hoffen, dass sich etwas ändern wird.«
    Die Polizistin war in ihrem Beruf ständig mit dem Schweigen und dem Lügen anderer Menschen konfrontiert. Sie nahm sich vor, sich fortan zu bemühen, dieses Lügen als etwas Positives zu sehen. Als Versuch, die Welt besser und schöner darzustellen, als sie es in Wahrheit war.
    Als der Sarg des Toten am zehnten Grab der dritten Reihe in die Grube hinabgelassen wurde, stieß Hannawalds Witwe einen lauten Schmerzensschrei aus. Sofort stellte sich ein buckeliger alter Mann neben sie und griff ihre Hand. Anne befiel ein ungutes Gefühl. Obwohl der kleine Brunnen mit der Jesusfigur im Lendenschurz leise plätscherte, verbreitete diese Beerdigung eine düstere Schwere, die sie lähmte. ›Ich muss hier weg‹, schoss es ihr durch den Kopf.
    Die Polizistin wandte sich ab und ging den Kiesweg zurück zum Eingang des Friedhofs, überquerte unterhalb des Kriegerdenkmals die Straße, passierte das Bräustüberl und betrat erneut die Klosterkirche. Das Portal stand noch offen. Sie schritt den Mittelgang entlang und nahm in der zweiten Reihe Platz, direkt vor dem an der Kirchenbank angebrachten ovalen Holzschild »Niederbronner Schwestern«. In der Kirche war es kühl. Der Geruch des Weihrauchs hing noch in der Luft. Annes Gedanken flogen zu Johann, zu Lisa. Was hatte das Leben noch mit ihnen vor? Anne spürte ein Ziehen im Bauch. Plötzlich bekam sie Angst, Johann könnte sie verlassen. ›Nein, keine solche Gedanken jetzt!‹, befahl sie sich und schloss die Augen.
    Dann hörte die Polizistin Schritte. Sie war in ihre Gedanken versunken gewesen, aber sie wusste nicht, wie lange. Hatte die Beerdigungsgesellschaft den Friedhof bereits verlassen? Anne wandte sich nicht nach demjenigen um, der den Mittelgang der Kirche Schritt für Schritt näher kam. Es waren kurze Schritte, kleine Schritte auf dem rötlich-weiß marmorierten Boden. Die Ermittlerin hatte die Augen noch immer geschlossen. Sie hörte, dass die Schritte genau auf Höhe ihrer Bank stehen blieben. Dann raschelte und rumpelte es leise. Jemand hatte neben ihr Platz genommen. Sie öffnete die Augen und wandte sich dem Neuankömmling zu.
    Der Junge mochte um die elf Jahre alt sein. War das der Junge, der vorhin bei der Witwe gestanden hatte? War er der Sohn des toten Holzfällers?
    Sie lächelte den Jungen an. Der lächelte zurück und fragte: »Sie sind die Frau von der Polizei, oder?«
    »Ja.« Anne nickte.
    »Ich will auch Polizist werden.« Der Junge sah nachdenklich zu dem Gemälde, das vorn über dem goldenen Tabernakel hing und den Jesus am Kreuz zeigte, unter ihm, in ein dunkelblaues Gewand gekleidet, seine Mutter Maria, ohnmächtig vor Kummer. Anne und der Junge schwiegen eine Weile.
    »Als Polizist muss man ehrlich sein, oder?«, sagte der Bub dann.
    »Ja.« Anne nickte erneut.
    Dieses Mal schwiegen die beiden noch länger.
    »Kann die Polizei einem Toten was?«, ergriff er dann wieder das Wort. »Also, einem Toten kann die Polizei doch nix mehr, oder? Wenn man tot ist, gibt’s bloß noch den lieben Gott, oder? Ich meine, das Jüngste Gericht …«
    »So könnte man das formulieren.« Anne musterte den Jungen belustigt. Was ging in ihm vor?
    »Dann will ich hiermit gestehen.« Anne hob die Augenbrauen. »Ich will gestehen, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«, der Junge bekreuzigte sich, »dass der Vater, also meiner, gewildert hat.« Er holte kurz Luft und sagte dann erleichtert:

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