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Hirschkuss

Hirschkuss

Titel: Hirschkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
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»So, jetzt ist es raus.«
    »Das wusste ich doch schon«, meinte Anne freundlich. Sie fand den Kurzen süß.
    Plötzlich schlugen die Kirchenglocken los. Anne zählte mit. Zwölf Uhr.
    »Musst du nicht zum Leichenschmaus?« Die Polizistin blickte den Jungen an.
    »Schon … aber …«, er dachte nach, »… da ist noch was.«
    »Mmh? Du machst es ja richtig spannend.«
    »Der Vater hat nicht nur gewildert, sondern er hat das Fleisch, an dem wo … also an dem wo …«, stotterte der Junge. Anne sah ihn offenen Blicks an. »… das Fleisch, an dem wo die Studenten krank geworden sind, dieses Wild hat, glaub ich, der Vater erlegt.« Unsicher suchte der Bub den Augenkontakt.
    »Warum glaubst du das?«, fragte Anne überrascht.
    »Ich glaub das nicht, ich weiß das. Ich hab nämlich an der Tür gelauscht, wie der Vater sich aufgeregt hat gegenüber der Mutter. Wie er gesagt hat, dass die zwei Studentendeppen – so hat es der Vater gesagt –, dass also die zwei ausgerechnet zu der Zeit im Wald umeinandergetappt sind, wie er das Reh erlegt hat. Und dass die sofort gemerkt haben, dass er kein Jäger ist, sondern ein Wilderer. Und dass sie ihn erpresst haben. Und dass die gedacht haben, sie sind im Heimatfilm, hat der Vater sich aufgeregt. Und dann haben die etwas von dem Fleisch haben wollen. ›Wir wollen unseren Anteil‹, haben sie gesagt, hat der Vater gesagt. Als Schweigegeld quasi.« Dem Jungen rollten Tränen über die Wangen, doch er sprach tapfer weiter. »Da hat der Vater ihnen gesagt, dass das Fleisch nicht gut ist. Dass er das Fleisch selber auch gar nicht nimmt, sondern bloß das Geweih. Dass man das Fleisch vergraben muss. Weil es krank macht. Der Vater hat den Studenten gesagt, dass sie bloß die Finger davon lassen sollen. Dass sie sonst krank werden und tot, wenn sie es anfassen. Er ist dann weggegangen, hat der Vater der Mutter gesagt, wie ich an der Tür gelauscht hab. Das Fleisch aber hat er liegen lassen. Aber die Studentendeppen – so hat es der Vater gesagt – haben wohl nicht auf ihn gehört. Und dann waren sie tot. Das war es, was ich noch sagen wollte.«
    Anne dachte nach, was dies alles bedeutete. Doch ehe sie zu einem Schluss kam, ergriff der Junge erneut das Wort.
    »Der Vater hat ein schlechtes Gewissen gehabt. ›Ich hätt das Fleisch mitnehmen müssen!‹, hat er gerufen. ›Ich hätt wissen müssen, dass die Deppen nicht auf mich hören!‹ Der Vater hat gedacht, er ist schuld am Tod von den beiden. Wissen’S, Frau Polizistin, deswegen ist er jetzt tot, der Vater.«
    Der Junge sah nun wieder eine Weile lang schweigend über den Altar hinweg zum Jesus am Kreuz. Dann, als hätte er sich zu einem großen Schritt entschlossen, holte er tief Luft und sagte laut und mit deutlicher Aussprache: »Der Vater ist tot und wird nicht mehr lebendig. Genau wie der neue Waldbesitzer …«
    Anne war plötzlich hellwach: »Was weißt du?«, fragte sie schnell.
    »Es war Notwehr. Wissen’S, Frau Polizistin, der neue Chef vom Wald, der hat den Vater und auch den Steff und den Uli und den Leonhard schikaniert wie der Teufel. Aber als Holzfäller verdient man eh schon nix.« Er sah Anne mit seinen ehrlichen Augen an. »Deswegen will ich ja zur Polizei, da ist’s doch besser, oder?« Anne nickte unschlüssig. »Und mit dem alten Förster war das auch immer alles gut. ›Der hat gewusst, wie’s ist‹, hat der Vater immer gesagt. Die haben gearbeitet, wie sie arbeiten haben wollen. In Ruhe und so. Wenn die Menge vom Holz gepasst hat, dann hat der sich nicht eingemischt.«
    Der Junge schwieg einen Moment, Anne hielt die Luft an. Dann fuhr er fort: »Aber den alten Förster, den Gansl, den hat der neue Waldbesitzer ja rausgeschmissen, und dann hat der sich ganz einfach selber zum Förster gemacht. Das hat dem Vater und den anderen nicht gefallen. Der Vater hat gesagt, dass der Mattusek auf einmal dauernd zur Kontrolle kommt. Unangemeldet, mitten am Tag. Und wenn’s gerade einmal eine Pause gemacht haben, dann hat er sie zusammengeschissen. Und er wollte, dass sie viel mehr Bäume fällen, wie sie in der Zeit überhaupt schaffen konnten. ›Ein Tyrann ist der‹, hat der Vater gesagt. ›Eine Drecksau.‹«
    »Aber deswegen lässt man doch einen Menschen nicht so qualvoll sterben?«
    Ohne auf Annes Einwurf einzugehen, sprach der Bub weiter: »Der Vater hat immerzu geschimpft, wenn er mit der Mutter allein im Zimmer war. Aber einmal, da hat er ihr einen Plan erzählt: Dass man den Mattusek mit

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