Hirschkuss
Milzbrand anstecken könnte. Dass das dann ausschaut wie ein Unfall. Also, so hätte es ausschauen können, wenn …«
»Aber wegen Arbeitszeiten und Kontrollen bringt man doch keinen Menschen um!« Anne war entrüstet.
Wieder schwieg der Junge und schaute zum Jesus hinauf, der mit seinem nach rechts gewandten Kopf aus dem Kirchenfenster hinauszulächeln schien. »Nur deswegen natürlich nicht«, fuhr er dann fort. »Aber der Mattusek war ja obendrein …« Er zögerte, ehe er die weiteren Worte langsam und konzentriert aussprach: »… ein perverses Arschloch – also, hat der Vater gesagt.« Anne sah den Buben ungläubig an. »Wissen’S, Frau Polizistin«, schob er dann hinterher, »der hat die Helena gebumst, meine Schwester. Aber die Helena ist erst sechzehn. Und jetzt ist sie schwanger.«
Für einen Moment fühlte Anne sich, als hätte sie in eine Steckdose gefasst. Als der Schmerz, den sie tief in ihrem Inneren spürte, sich verflüchtigt hatte, legte sie ihren Arm um die Schultern des Buben.
»Ich glaube, aus dir wird einmal ein guter Polizist«, sagte sie nach einer Weile.
Dienstag
Als sie am nächsten Morgen die Stufen der Polizeidienststelle hinaufstieg, ertappte Anne sich dabei, dass sie unbeschwert »Love, love me do« summte. Auch Kastner, der bereits Kaffee aufgesetzt hatte, wirkte erleichtert, dass die Fälle, die sie in den letzten beiden Wochen beschäftigt hatten, endlich gelöst waren.
»Die Hunderttausend stammten übrigens tatsächlich aus legaler Quelle. Das hat der Cousin von der Nikopolidou einfach zusammengespart«, erklärte der Kollege nach einer kurzen Begrüßung.
»Woher weißt du das?«, fragte Anne erstaunt.
»Fernschreiben aus Griechenland«, erwiderte Kastner und deutete auf ein Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Dass unsere griechischen Kollegen so schnell sind, hätt ich allerdings auch nicht gedacht. Man sagt doch sonst immer, der Grieche habe keine funktionierende Verwaltung.«
Anne nahm das Blatt und überflog es. »Sogar in tadellosem Englisch ist das geschrieben.«
»Dann bekommt die Familie jetzt wenigstens ihr Geld zurück, wenn’s schon nicht ihre Tochter …« Weiter kam Kastner nicht, denn Nonnenmacher stürmte ins Zimmer.
»Sofort freilassen«, kommandierte der Inspektionsleiter.«
»Wen? Was?«, fragte Kastner und sah den Chef verständnislos an.
»Ja, den Soder und den Zernet halt. Ich hab gerade mit der Staatsanwaltschaft telefoniert. Sofortige Freilassung wegen zu geringer Straferwartung, heißt es.«
»Ja, dann lass ich die jetzt frei, oder was?« Kastner erhob sich schwerfällig. Als er zur Tür hinaus wollte, trat Nonnenmacher jedoch nicht zur Seite.
»Was noch?«, wollte Kastner von seinem Vorgesetzten wissen. Die beiden Männer standen sich direkt gegenüber, beinahe Nase an Nase.
»Noch eine Frage.« Kastner machte zwei Schritte rückwärts und schaute den Inspektionschef erwartungsvoll an. »Ich wollte fragen …«, begann der Vorgesetzte unbeholfen, »… wie es sich für euch anfühlt, dass ihr jetzt zwei Verdächtige freilassen müsst’s.«
Die beiden Beamten blickten ihren Chef irritiert an – woher sollten sie auch wissen, dass er gerade eine Regel aus dem Handbuch für Menschenführung ausprobierte?
»Anfühlen?«, meinte Kastner. »Seit wann interessiert’s dich, was mir fühlen?«
Nonnenmacher schien sich plötzlich nicht mehr sicher zu sein, ob die neuen Managementtechniken in eine bayerische Polizeidienststelle wirklich hineinpassten, machte mit einem ungelenken Ruck den Weg für Kastner frei und sagte: »Nix für ungut. War bloß so eine Idee von mir, das mit dem Fühlen, so eine Art Geistesblitz.«
»Soso«, antwortete Kastner. »Geistesblitz … ja, dann schlag ich vor, dass ich jetzt geh, eh da noch ein Gewitter losgeht.«
Bankert m. obs. »uneheliches Kind« (→ 15. Jh.). […] eigentlich also »das auf der (Schlaf-)Bank (der Magd, und nicht im Ehebett) gezeugte Kind«
Friedrich Kluge, Sprachwissenschaftler
ELF
Einige Wochen später
Einige Wochen später erfuhr Anne, dass die von Mattusek geschwängerte Helena Hannawald ihr Kind verloren hatte. Ihre Nachbarin, Frau Schimmler, hatte es ihr beim Einkaufen zugeraunt. »In der zwölften Woche, der Bankert!« Zwar hatte Anne es zunächst nicht geglaubt, denn die alte Schimmlerin verbreitete allerlei Gerüchte im Ort, von denen die allermeisten erstunken und erlogen waren. Doch dieses Mal ergaben Annes Nachforschungen, dass es
Weitere Kostenlose Bücher