Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
mehr, Tyde musste innehalten, konnte vor Schmerzen nicht weitergehen. Sie beugte sich nach vorn und keuchte. Der Druck nach unten wurde fast unerträglich, das Kind bahnte sich seinen Weg hinaus. Es war nicht mehr weit bis zum Haus von Adele Stausand, wo Hiske sicher schon auf sie wartete. Sie musste sich bei der Hebamme gleich hinlegen, am besten mit dem Becken nach oben, so wie sie es ihr am Mittag angeraten hatte.
Im Mondschein sah sie die Umrisse der Höfe von Hebrichhausen vor sich liegen. Sie huschte an der
Olden Krocht
und Krechtings Haus vorbei und hoffte, dass der Mann schlafen und sie in der viel zu hellen Nacht nicht erkennen würde. Wie selten war der Himmel über Ostfriesland so klar, und ausgerechnet in der Nacht, in der sie um ihr Leben lief, gab er ihr keinerlei Deckung. Tyde blieb nichts anderes übrig, als sich dicht am Wegrand zu halten und gebückt zu laufen, so schwer das mit dem dicken Bauch auch war. Aber nur so boten ihr die niedrig gewachsenen Büsche ein wenig Schutz. Tyde musste immer wieder innehalten, der Schmerz im Bauch zerriss sie. Tyde griff mit der Hand abwechselnd dorthin und in den Rücken, der ebenfalls so wehtat, als würde sie nach unten hin aufgerissen und zerteilt.
Es gab kein Zurück. Das Leben ihres Kindes war der Preis für ihr eigenes, denn sie würde es verlieren. Das waren keine harmlosen Schmerzen mehr. Das waren Wehen, die das noch viel zu kleine Wesen aus der Höhle trieben und es schutzlos in die Welt fallen ließen. In ihrem Zustand durfte man sich weder aufregen noch anstrengen. Tyde schleppte sich unter Schmerzen weiter. Hätte Hiske das wirklich von ihr verlangt, wenn es nicht zwingend notwendig gewesen wäre?
Tyde sah nun Adeles Haus hinter der nächsten Wegbiegung auftauchen. Es lag völlig im Dunkeln, keine Kerze, kein Licht deuteten darauf hin, dass jemand sie erwartete. Tyde verlangsamte ihren Schritt, brach unter der nächsten Wehe fast zusammen. Noch während sie darauf wartete, dass der Schmerz nachließ, schoss ihr durch den Kopf, dass etwas nicht stimmte. Hiske hätte sie doch sicher selbst abgeholt oder wäre ihr entgegengelaufen, damit sie ihr Bündel nicht allein so weit schleppen musste. Zumindest aber hätte sie ein Licht angezündet und sie erwartet. So aber lag das Haus in fast vollkommener Dunkelheit vor ihr, nur das Mondlicht brach sich in den Schindeln.
Trotzdem wollte Tyde sich noch bis dahin durchkämpfen, es war ihre einzige Möglichkeit auf Menschen zu treffen, denen sie vertraute. Adele würde ihr ein warmes Getränk bereiten und ihr Neugeborenes in warme und saubere Tücher wickeln, ihm ein Lied vorsingen, bis die Seele den kleinen, viel zu schwachen Körper verlassen hatte. Hiske würde sich um sie kümmern und ihr Beistand gewähren, denn es war nicht gewiss, ob sie all das nicht trotzdem mit dem Leben bezahlen musste. Und sie würde das Kind taufen, selbst wenn Adele dabei wäre. Ein winziges Glimmen in Hiskes Augen hatte es ihr verraten.
Tyde begann zu schluchzen. Sie war vor dem Tod davonund ihm direkt in die Arme gelaufen.
Eine besonders heftige Wehe durchfuhr ihren Körper, sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, musste sich an den Zweigen eines Busches festhalten. Als der Schmerz abebbte, stellte sie sich aufrecht hin, zuckte dann jedoch zusammen, denn ihr war wieder, als wäre der Schatten in der Nähe. Es war dieses hektische Atmen, dieses unerklärliche Gefühl, nicht allein zu sein. Tyde sah sich um, schaute nach rechts und nach links, bohrte den Blick in die mondhelle Nacht, die sie ihrem Feind schutzlos auslieferte. Sie war nicht allein, das Böse war bei ihr, hatte sie aus der Burg gelotst, um nun gnadenlos über sie herfallen zu können.
Als sie sich ein weiteres Mal umdrehte, sah sie, wer auf sie zukam. Das Messer mit beiden Händen umfasst und mit einem Ausdruck, der nicht von dieser Welt war. Er sprühte vor Hass und Ablehnung. Ihr wurde endgültig klar, dass sie in eine Falle gelockt worden war. Die Hände trieften vor Blut, und als das Messer niederfuhr, stöhnte Tyde auf, bevor ihr die Sinne schwanden.
Garbrand erwachte, und es ging ihm schon um vieles besser. Der scheußlich schmeckende Trunk der Hebamme schien zu wirken. Vielleicht waren es auch die klebrigen Wickel, die ihm das Fieber aus dem Leib gezogen hatten. In der Nacht war er mehrmals wach geworden. Einmal hatte Jan, der neben ihm auf dem Fußboden schlief, laut gestöhnt, das andere Mal war Hiske nach Hause gekommen. Sie hatte einen Blick
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