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Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin

Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin

Titel: Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Kölpin
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der Tür her zog. Hatte Hinrich vergessen, sie zu schließen, oder war jemand unbemerkt in ihr Haus getreten? Elske griff nach dem Schürhaken und schlich sich zum Eingang. Von draußen drang der süßliche Duft des herannahenden Morgens zu ihr durch, vom Stall ertönte das durchdringende Muhen einer der Kühe, die darauf warteten, dass der Knecht sich erbarmte und sie molk. Elske trat vor die Tür. Das Morgenrot erhellte den Horizont, die ersten Amseln hatten ihr Lied angestimmt. Es war ein friedlicher Morgen, und der Tag würde mit sonnigem Wetter einhergehen. Der kurze Sommer in Ostfriesland war im Anmarsch. Es wurde Zeit, die dunklen Gedanken mit dem Winter ziehen zu lassen und sich endlich wieder am Leben zu erfreuen. Der Deichbau würde schneller vorankommen, und schon bald hätten alle Flüchtlinge ein Zuhause. Selbst wenn sie von Ascheburgs Mörder nie finden würden: Hauptsache, es war wieder Frieden in der Herrlichkeit, und sie jagten kein Kind mehr, um diese Ruhe wiederherzustellen.
    Elske wollte eben zurück ins Haus gehen, als sie stutzte. Sie umklammerte den Schürhaken mit beiden Händen und schlich in gebückter Haltung auf das zu, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Hinter einem Busch lag Hinrich, und es wirkte nicht, als sei er noch am Leben.
    Der Knabe saß in der Scheune und weinte. Er hatte nur selten in seinem Leben geweint, hatte es sich irgendwann abgewöhnt, denn sonst hätte er vermutlich nicht mehr aufhören können. Weinen war gefährlich, konnte ihn verraten, und so waren ihm auch lautlose Tränen schnell fremd geworden. Doch nun brach alles aus ihm heraus. Seit er der Lebenspflückerin begegnet war, war sein Herz angestoßen. Es schlug nicht nur, es gab ihm ein warmes Gefühl, es schlug für sie. Und es konnte kalt werden, sich zusammenziehen, wenn er sich bedroht sah.
    Nun war der Knabe allein, einsam, sah den blauen Himmel, die Sonne, die den Tag erwärmen würde, und doch war ihm so schwer ums Herz. Er kannte das Gefühl nicht, weil sich nie irgendwer für ihn interessiert hatte. Aber die junge Frau sorgte sich um ihn. Sie hatte nach ihm gerufen, und er hatte in ihrer Stimme diese Wärme erfahren. Er hatte auch zu ihr laufen, seinen Kopf in ihre Armbeuge legen wollen, doch dann waren die bösen Stimmen gekommen. Sie hatten sich leise durchs Unterholz geschoben, waren trotzdem aufdringlich gewesen, denn sie hatten einen scharfen Klang, der durchs Ohr schnitt und die Seele verletzte. Sie hatten ihn daran gehindert, zu der Lebenspflückerin zu gelangen, er konnte sie nicht einmal warnen und hoffte, dass sie sie nicht gefunden hatten.
    Als die Luft rein war und die Stimmen wieder fort, hatte er auch die Lebenspflückerin nicht wiedergefunden. Danach war er in Richtung Burg und dann zu der Scheune gelaufen, die nun leer stand, weil noch keiner wieder auf dem Hof wohnte. Er hatte Glück, dass sie tatsächlich offen stand. Auf dem Weg dorthin waren ihm der laute Mann im Garten begegnet und die Frau von dem Mann, den er vergessen wollte, dessen Blut er an seinen Händen gehabt hatte.
    Er war ihnen unheimlich, deswegen hassten sie ihn. Der laute Mann und auch diese Frau waren schuld daran, dass er die Lebenspflückerin nicht mehr sehen konnte, sie waren schuld, dass man ihn suchte. Er wusste nicht, was sie von ihm wollten, doch er hatte mal gesehen, wie sie einen Menschen in das Kellerloch der Burg gesteckt hatten. Das wollte er nicht. Nie wieder wollte er eingesperrt sein, und er würde alles tun, um das zu verhindern. Der Burghof war gefährlich, die Mauern tödlich. Er wusste, warum er nie dort hineinging.
    Nun hockte er versteckt in der Ecke der Scheune, wagte kaum, seine Nasenspitze zu heben, und er konnte diese Tränen nicht verhindern. Sie kullerten aus ihm heraus, es war, als liefe sein ganzes Innerstes leer. Wie konnte ein Mensch so sehr weinen? Ihm ging sein ganzes Leben oder besser das, an was er sich erinnern konnte, durch den Kopf. Es war nicht viel, und das, was kam, war immer dasselbe. Essen, trinken, Flucht. Angst, Hunger, frieren. Dann frieren, Hunger, Angst. Flucht, trinken, essen. Bis die Lebenspflückerin gekommen war. Danach war da so etwas wie Wärme, ein gutes Gefühl in der Mitte. Er hatte plötzlich Gerüche, Farben und Geräusche im Kopf, die wie ein Lied waren. Er hatte Worte, die das alles beschrieben. Und er hatte einen Namen. All das wollte der laute Mann zerstören, weil er seine Leute losgeschickt hatte, um ihn von der Burg verschlucken zu lassen. Das konnte

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