Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
weder eine Decke noch etwas Stroh. Wie dort leckten aus der Ecke stetige Tropfen, die von der großen Feuchtigkeit herrührten.
Klaas Krommenga hatte ihr eine Schüssel dickflüssigen Haferbreis zu Füßen gestellt, die sie wie eine Katze mit der Zunge ausschlecken musste, weil ihre Hände festgezurrt waren. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen. Dabei tanzte ein diabolisches Funkeln über seine Augen, und alle Worte, die er an Hiske richtete, kamen ihr vor wie eine Dunstwolke aus Gestank und Unheil. »Du kannst mich kein zweites Mal verzaubern, Toversche. Du hast schon genug Unglück über mich gebracht. Jetzt bin ich am Zug, und sollte mich der Satan holen, dann weiß ich wofür.«
»Was habe ich getan, dass Ihr mich dermaßen hasst?«
Krommenga begann zu lachen. Hämisch, breit und klirrend. Dabei glitt seine Hand zum Herzen, als verspüre er dort etwas, das ihn beunruhigte. Ihm brach der Schweiß aus, und er stockte einen Moment, bevor er weitersprechen konnte. »Das weißt du schon genau. Warum zum Teufel habe ich dieses vermaledeite Bein nicht mehr?«
Hiske sah ihren Peiniger an und begriff in diesem Augenblick, was hinter seiner Stirn vor sich ging. »Was soll ich getan haben, Scharfrichter?«
»Du kennst meinen Namen nicht, Toversche?«
Hiske schüttelte den Kopf und wiederholte: »Was soll ich getan haben?«
Klaas Krommenga schob den Stoff hoch und legte Hiske das Holzbein frei. »Das ist dein überaus teuflisches Werk!«
»Ich habe Euer Bein auf dem Gewissen?«
Krommenga nickte, zischte mit wenigen Sätzen all den aufgestauten Hass heraus. »Dein Werk, du Biest, du Hexe, die dem Scheiterhaufen zweimal entwischt ist und dafür vier andere Menschen geopfert hat.«
»Scharfrichter! Ich habe niemanden geopfert. Getötet habt Ihr die anderen, weil Ihr nicht bekommen habt, was Eure Gier war. Ihr seid der Täter, nicht ich!«
Krommenga hieb mit dem Fuß gegen die Schale Haferbrei, sodass Hiske sie nicht mehr erreichen konnte. Der Inhalt breitete sich wie ein zäher Teppich auf dem Boden aus.
»Bastard!«, entfuhr es Hiske, denn nun war klar, dass er sie nicht nur foltern, sondern auch hungern lassen würde. Jeder gierige Blick zum Essen würde ihn anstacheln und ihm die Befriedigung geben, die er seit Jahren herbeisehnte.
Der Scharfrichter hatte sich erhoben und kam mit einem Stück Leinen zurück. »Du sagst besser nichts mehr, bevor deinem Maul noch weitere giftige Kröten entschlüpfen, die Unheil über diese Welt bringen.« Er zurrte das Leinen fest um ihren Mund.
Hiske wollte noch so viel fragen, aber der Mann ließ ihr keine Wahl. Er hatte den Stoff so fest gezogen, dass jede Bewegung, jede Mimik, sogar das regelmäßige Zwinkern der Augen schmerzte. Sie versuchte, den Scharfrichter mit ihren Augen zu erreichen, aber das gelang ihr nicht. Er drehte sich weg und lachte irr. »Du wirst dich noch nach Jever zurücksehnen, Hiske Aalken. Zurücksehnen.«
Hiske saß eine ganze Weile allein, versuchte sich abzulenken und ihre Angst zu betäuben, indem sie begann, die Tropfen zu zählen, die in stetig gleicher Abfolge auf den Boden trafen. Das Schlucken mit dem Knebel fiel ihr unsagbar schwer. Als das Zählen nicht mehr half, versuchte sie, irgendein Geräusch zu erhaschen und zu orten, wo sie sich befand. Das Verlies hatte steinerne Wände, war also keine Scheune. Soweit sie informiert war, baute man die neuen Häuser der Neustadt aber ohne Keller, denn zu sumpfig war der Untergrund. Es gab folglich nur einen Ort, an dem sie sich befinden konnte: die Burg Gödens oder eines der Nebengelasse dort. Wer, verdammt, hatte es dem Scharfrichter möglich gemacht, sie hierher ins Verlies zu schleppen? Wie viele der Wachen hatte er bestochen? Warum reichte sein Einfluss bis auf die Burg Gödens, wo er in Jever doch ein Mensch aus der untersten Gosse gewesen war? Der Scharfrichter musste mit den Huren, dem fahrenden Volk und den anderen unehrlichen Berufen außerhalb der Wallanlagen in der Petersilienstraße hausen. Kein angesehener Bürger Jevers hätte ihn gegrüßt, wobei Krommenga klug genug gewesen war, sich nicht in der Stadt zu zeigen. Er hatte ein Schattendasein geführt. Seine meiste Zeit gehörte den armen Kreaturen des jeverschen Kerkers, den Rest verbrachte er schlafend auf seinem Bretterverschlag, um sich dann im Schutz der morgendlichen Dunkelheit wieder zum Schloss zu schleichen. Obwohl Hiske immer mal wieder auch in der Petersilienstraße zu tun gehabt hatte, war sie ihm, bevor er zu ihrem
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