Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
ihr nichts passieren. Sie war unter Schmerzen und Blut entstanden, das spürte sie genau. Alles, was bei der Herstellung mit Blut benetzt war, machte es unangreifbar und den Träger gleich mit.
Hiske war jetzt vermutlich schon auf dem Weg in die Hölle. Klaas Krommenga würde nicht zögern, es hinter sich zu bringen. Sie war in seiner Gewalt. Grieta begann zu lachen. Laut und schrill. Es klang, als würde sie den Verstand verlieren.
Jan keuchte unter der Last des Knaben. Seine Kleidung war vom heftigen Gewitterschauer noch immer durchnässt und klebte an ihm wie eine zweite Haut. Dennoch schwitzte er, weil der Wortsammler mit jedem weiteren Schritt schwerer zu werden schien. Er war seit gestern Abend nicht mehr aufgewacht, und Jan wusste nicht, ob er wieder zu Bewusstsein kommen würde. Vielleicht musste er Hiske ein totes Kind vor die Füße legen, doch dann konnte sie ihm zumindest ein Grab geben und dort um ihn trauern. Die Vorstellung, das Kind einfach im Moor zu versenken oder ihn auf einem der verschlungenen Pfade den Fliegen und anderen Tieren zum Fraß zu überlassen, war für Jan unerträglich. Das würde ihm Hiske auch nie verzeihen. Er hatte auch an diesem Morgen nicht den richtigen Weg gefunden, sich immer weiter in der Tiefe des Moores verloren und war kurz davor, aufzugeben. Aber er wollte nicht in dieser Einsamkeit sterben. Er wollte zurück zu Hiske, hatte ihr noch so viel zu sagen. Er war auf dem besten Weg, Lieke zu vergessen und einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen. Dazu aber musste er diesen Sumpf endlich verlassen. Der Gedanke an Hiske hielt ihn aufrecht. Er konnte nicht sterben, ohne ihr zumindest erklärt zu haben, was in seinem Leben mit seiner Liebe schiefgelaufen war, sodass in ihm die Überzeugung gereift war, nie mit einer Frau leben zu können, geschweige denn, noch einmal tief zu empfinden. Jan wusste nicht, ob Hiske es verstehen würde, aber er musste es versuchen.
Auf seinem Rücken regte sich der Wortsammler, begann seine Gliedmaßen unruhig hin und her zu bewegen. Jan setzte ihn ab, weil er wegen der unkontrollierten Bewegungen Gefahr lief, in das neben ihm liegende Gewässer zu stürzen.
»Lebenspflückerin«, quetschte der Knabe hervor, deutete mit dem Finger nach Nordosten.
Jan kniff die Augen zusammen und erkannte tatsächlich einen engen Pfad, der sich zwischen Schilf und kleinen Birken durch das Gebiet zog. Er hätte ihn ohne den Hinweis des Knaben nicht entdeckt, sondern wäre wieder auf den vermeintlich sicheren, breiten Schneisen gelaufen und vermutlich noch tiefer ins Sumpfgebiet gelangt.
»Geht es dir besser?«, fragte er. Doch vom Wortsammler kam keine Antwort, er war bereits wieder in seine Apathie verfallen.
Jan schulterte ihn erneut und hoffte, dass es nicht allzu weit sein würde, bis die Wege etwas fester wurden. Er kämpfte sich durchs Gestrüpp, immer den schmalen Pfad im Blick. Rechts und links neben ihm lag das schwimmende Moor, er musste, trotz aller Müdigkeit, konzentriert weiterlaufen. Nach dem Hinweis des Knaben hatte ihn eine neuerliche Kraft durchflossen, von der er hoffte, dass sie bis nach Gödens halten würde. Wichtig war einzig und allein, dass er nicht stürzte, denn er hätte keine Kraftreserven mehr, sich selbst oder den Knaben aus dem Wasser zu ziehen.
Schließlich wurde der Boden trockener, der Pfad breiter, und er brauchte nicht mehr so sehr aufzupassen. Jan atmete tief durch, und nach einer Weile erkannte er eine Kerbung in der Birke und gleichzeitig den Weg zurück.
Die rote Kate der Hebamme wurde vom Morgenlicht angestrahlt, als er um die Ecke bog. Es war wie ein Nachhausekommen. Er fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt, als er noch glaubte, nichts in der Welt könne ihm etwas anhaben, weil er niemals allein war. Er wunderte sich selbst über diese Gedanken und das Gefühl, das ihn von innen heraus wärmte. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Die letzten Schritte rannte er fast. Er stieß die Tür auf, die unverschlossen war, und fand in der Küche Garbrand vor, den Kopf auf die Hände gestützt.
»Was ist los?«, keuchte Jan.
»Sie ist weg. Einfach verschwunden.«
Amsterdam 1535
Das Mädchen blutet. Sie wagt nicht, damit zu Amilia zu gehen, die ist in den letzten Monaten mit dem einzig wahren Glauben beschäftigt. »Der ist aber verboten, wir dürfen nicht darüber reden, Meisje. Jan Matthys ist ein großer Mann!«
Das Mädchen will auch gar nicht darüber reden, und es interessiert sich weder für Jan
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