Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
redeten. Nicht auf seiner ersten Reise in die Herrlichkeit Gödens, mit dem kranken Garbrand an seiner Seite und der gefährlichen Botschaft eines verfolgten Predigers in der Tasche. Selbst als er danach nach Emden gegangen war, um seine Gefühle für Hiske zu verdrängen, selbst da war ihm die Einsamkeit nie so bewusst gewesen wie heute.
Eines war sicher. Wenn er hier aus dem Moor je wieder herauskam, würde er nicht wieder davonlaufen, sondern sich alldem stellen. Denn nur eines konnte schlimmer sein: ein Leben ohne Hiske Aalken.
Ein Wasservogel flog mit lautem Flügelschlag auf, als er an einem kleinen Moorsee vorbeilief. Dazu stimmte ein Frosch seinen Morgengesang an, ein Reiher kreischte auf. Trotz dieser Geräusche erschien es Jan still. Immer stärker beschlich ihn eine unterschwellige Furcht, der er sich kaum gewachsen fühlte. Das Moor hatte eine deprimierende Wirkung auf ihn. Wie erst musste es dem Wortsammler ergehen? Er war noch ein junger Mensch, zwar in diesem Gebiet aufgewachsen, aber eben noch fast ein Kind. Jan war überzeugt, dass der Knabe sich fürchtete, zumal er seit Jahren das bessere Leben und die Geborgenheit bei Hiske gewöhnt war.
Während der Arzt sich durch die Einsamkeit kämpfte, weiter Zeichen ins Unterholz schnitzte, versuchte er sich abzulenken und grübelte. Er musste, neben seinem eigenen Kummer, Zusammenhänge erfassen. Zusammenhänge, von denen er hoffte, dass es sie wirklich gab.
Jan war fast froh, als ihn die Gedanken an Friso van Heek einholten. Er begann sie zu sortieren. Der Kaufmann war getötet worden, nachdem er eine kurze Zeit in der Herrlichkeit verbracht hatte. Er war Hiskes wegen in Streit mit dem Wortsammler geraten, und der war nun verschwunden. Dazu fühlte sich die Hebamme verfolgt. Zumindest beobachtete jemand ihre Kate, denn den schlurfenden Schritt hatte sie sich bestimmt nicht eingebildet. Friso van Heek musste vielerlei Verbindungen haben. Er war in Europa herumgekommen wie kaum ein anderer Kaufmann, das hatte Krechting immer wieder fallen lassen. So war es nicht ausgeschlossen, dass ihm jemand aus der Herrlichkeit bereits zuvor schon einmal begegnet war und es eine alte Feindschaft oder offene Rechnung zwischen ihnen gab. Hier waren viele Holländer. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihn einer von ihnen kannte, war groß, denn Friso hatte seine Geschäfte in den letzten Jahren vornehmlich dort getätigt. Aber er war eben auch in Frankreich und England, sogar in Spanien und Italien gewesen, dachte Jan.
Ganz eindeutig fehlte ein Bindeglied, das die ganze Sache logisch werden ließ, denn an einen großen Fremden, der dem Kaufmann einfach den Schädel eingeschlagen hatte, glaubte Jan nicht. Es war wirklich merkwürdig, dass das Medaillon nach seinem Tod unauffindbar blieb. Hiske glaubte, es bei Magda gesehen zu haben; in dem Fall steckte Dudernixen ganz tief drin. Oder doch Magda als Rache für das, was Friso ihr vermutlich in der Nacht angetan hatte. Angeblich war sie dazu aber körperlich gar nicht in der Lage. Oder erst recht, dachte Jan. Sie ist von ihm überfallen worden, hat ihn verfolgt, sich gerächt und versteckt sich nun hinter ihrer Traurigkeit, die kein Mensch einordnen kann. Eine gute Tarnung.
Jan lauschte. Er glaubte, ein Geräusch vernommen zu haben, das so gar nicht zum Moor passen wollte. Es war nicht der Ruf eines Wasservogels, es war nicht das Quaken eines Frosches und der Gesang eines Vogels schon gar nicht. Eher klang es wie ein Röcheln oder Stöhnen, und es klang nicht gut. Jan blieb stehen, versuchte die Richtung herauszufinden, aus der es kam. Doch nun blieb es still. Nichts. Jan bewegte sich noch immer nicht. Er hatte etwas gehört, ganz sicher. »Wortsammler!«, rief er. »Bist du es, Wortsammler? Ich bringe dich zurück zur Lebenspflückerin!«
Stille.
Eben wollte Jan weitergehen, weil er glaubte, sich doch geirrt zu haben, als sich das Geräusch wiederholte. Er drehte sich vorsichtig um, der Boden gab zu sehr nach, als dass er rasch hätte hinübergehen können. Jeden Schritt sicherte er ab, prüfte, ob der Boden ihn hielt. Ein Fehltritt, und er wäre verloren. Hoffentlich bilde ich mir nicht nur ein, etwas gehört zu haben. Nicht dass ich dem Rufen irgendwelcher Moorgeister erlegen bin, scherzte er in Gedanken mit sich selbst. Jan reckte seinen Oberkörper weit vor, versuchte, etwas zu erkennen. »Wortsammler!«, rief er wieder, und dann sah er den Knaben. Den Arm hatte er um einen Ast geschlungen, der gesamte Unterkörper
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