Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
nichts für Anneke empfand, so hatten seine Sätze ihr doch gezeigt, dass sie, Hiske, nicht die Art Weib war, für die er sich begeistern konnte. Jan war von hochgewachsener Gestalt, ähnlich wie die Marketenderin. Hiske hingegen war klein, ihr dunkles Haar stets widerspenstig und kaum zu bändigen, während Annekes golden, mit einem rötlichen Schimmer, über ihre Schultern wiegte. Hiskes Haut war dunkel wie die der Südländischen, die sie mal in Jever auf dem Markt gesehen hatte und die aus Spanien kamen. Annekes Haut dagegen glich Buttermilch, über die sich ein paar Sommersprossen verteilt hatten. Solche Frauen mochte Jan, deutlicher hätte er es nicht sagen können.
Sie war wütend auf sich selbst, weil sie dem Arzt ihre Gefühle gezeigt hatte. Das schickte sich nicht und hatte bestimmt nicht dazu beigetragen, ihre Situation zu entspannen. Dennoch zeigte er ihr aber seine Verbundenheit, indem er sich ins Moor aufmachte, um den Wortsammler zurückzuholen. Sie sollte wenigstens die Freundschaft erhalten, denn das war in Zeiten wie diesen unglaublich viel wert. Vor allem, wenn sie daran dachte, wie eng sie auch über die Medizin miteinander verbunden waren. Es gab kaum jemanden, mit dem sie so intensiv über Krankheiten diskutieren konnte.
Aber das Gesagte würde auf ewig zwischen ihnen stehen. Ihre Worte, seine Worte … Nein, sie wollte die Herrlichkeit verlassen, neu beginnen. Ohne Jan, ohne die Erinnerungen an ihre gemeinsamen Momente, die sie nach wie vor als kostbaren Schatz sah. Es war gut, wenn er so in ihrem Herzen verschlossen bliebe.
Hiske war es egal, wer Friso van Heek getötet hatte, es war ihr egal, wer nachts um ihr Haus schlich und versuchte, ihr Angst einzujagen. Sobald der Junge zurück war, würde sie gehen. »Ich kann einfach nicht mehr«, flüsterte Hiske. »Ich kann nicht mehr.« Du darfst nicht einfach weg, warnte sie eine andere Stimme. Es gibt das Fieber hier. Sie brauchen dich. Erst gestern waren zwei der Deicharbeiter der Epidemie zum Opfer gefallen. Nun war es zwar so, dass auch zuvor Erwachsene am Marschenfieber erkrankt waren, doch nie war jemand von ihnen daran gestorben. Es wurde immer aggressiver, je länger die Hitze andauerte. Vielleicht würde es nach dem Regen besser werden. Nachdem es gestern noch unangenehm schwül gewesen war, hatte sich die Luft heute merklich abgekühlt. Ein frischer Windhauch zog durchs Zimmer und ließ Hiske frösteln. Sie legte sich ein Tuch um die Schultern.
Mit einem Mal öffnete sich die Tür, und Anneke sah hinein. »Lina geht es schlecht. Bitte komm!«
Hiske überlegte. Sollte sie gehen? Sie zog die Stirn in Falten, kniff die Lippen zusammen, stand dann doch auf und schlurfte aus dem Raum. »Ich suche nur meine Sachen zusammen«, rief sie.
Anneke wirkte müde, die Sorge um die kleine Duuvke stand ihr ins Gesicht geschrieben. Die beiden Frauen liefen zunächst schweigend über die schlammigen Wege in die Neustadt. Hiske hatte extra ihre Klumpen aus der Ecke hervorgeholt, denn nur die waren bei solch einem Schlamm als Schuhe zu gebrauchen. Anneke dagegen hatte mit ihren Lederschuhen arg zu kämpfen.
Über den Feldern und Wiesen schwebte dichter Nebel, der sich in die Unendlichkeit zu verflüchtigen schien. Er bildete mit den tief hängenden Wolken eine Einheit, wirkte genauso undurchdringlich wie das, was gerade in der Neustadt geschah. Die Sonne würde heute lange brauchen, um sich durchzusetzen.
»Ist man eigentlich weiter damit, wer Friso van Heek umgebracht haben könnte?«, fragte Hiske nach einer Weile, da das Schweigen für sie unerträglich wurde. Sie wollte nicht mehr von ihren finsteren Gedanken gelenkt werden. Sie wollte nach vorn blicken.
Anneke zuckte bei ihrer Frage zusammen. »Nein, das weiß man nicht. Ich finde es unheimlich, wenn ein Mörder in der Neustadt herumläuft. Man munkelt, es sei ein Seefahrer gewesen, der lange wieder weg ist. Aber weiß man das?« Annekes Schultern zogen sich unwillkürlich hoch.
»Glaubst du etwas anderes?«, fragte Hiske.
»Ich weiß es nicht. Die Vorstellung, der Mörder könnte bereits wieder fort sein, hat etwas Beruhigendes, und gleichzeitig ist es schlimm. Weil er nie dafür belangt werden wird, was er getan hat, und es bestimmt immer wieder tut. Wer einmal mordet …«
»Mordet weiter?«, fragte Hiske. »Glaubst du das?«
Anneke nickte. »Es ist dann, als habe dieser Mensch Blut geleckt und kann ohne diesen Geruch und Geschmack nicht mehr sein, weißt du?«
Hiske zweifelte, ob es
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