Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
wirklich so war, aber sie wollte dieses Thema nicht vertiefen. »Du weißt, dass der Wortsammler verschwunden ist?«, lenkte sie ab.
Anneke schnellte herum. »Nein, das ist noch nicht bis zu mir durchgedrungen. Wie schrecklich! Wo kann er hin sein?«
»Wenn ich das wüsste, Anneke.«
Vor den beiden Frauen tauchten aus der Nebelwand die ersten Häuser der Neustadt auf. Wie dunkle Umrisse, die den Dunst in Rechtecke mit dreieckigen Spitzen schnitten. Auf Hiske wirkte die ganze Szenerie so, als habe sich das Leben aus der Neustadt gestohlen, bevor es überhaupt begonnen hatte, zu schwingen.
Anneke schritt kräftig aus. Schließlich blieb sie stehen und stellte sich Hiske in den Weg. »Weißt du, warum er fort ist?«
Die Hebamme kniff die Lippen zusammen, weil ihr sonst die Tränen in die Augen schießen würden. Es dauerte einen Moment, ehe sie in der Lage war zu sprechen. »Er ist seit ein paar Tagen weg, und ich weiß nichts. Nicht, wo er ist, nicht, warum er fortgelaufen ist. Er muss sich vor etwas sehr fürchten, nie und nimmer würde er einfach so verschwinden. Das hat er nur zu Beginn getan, jetzt hat er ein Zuhause, und das weiß er. Ich bin furchtbar in Sorge.«
Anneke fuhr sich durch das von der Feuchtigkeit strähnig gewordene Haar, hob die Hand und schien kurz zu überlegen, ob sie Hiske berühren sollte, entschied sich dann aber dagegen. »Hast du ihn gesucht?«, fragte sie stattdessen und wandte sich gleichzeitig zum Gehen.
»Ja, habe ich. Bin im Moor gewesen, aber er war nicht auffindbar.«
»Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen. Was willst du nun tun?«, fragte Anneke und beschleunigte ihren Schritt, als wolle sie vor all den Antworten fliehen.
»Jan sucht ihn«, sagte Hiske.
Anneke hielt erneut kurz inne, behielt aber dann doch die eingeschlagene Geschwindigkeit bei. »Jan sucht ihn?«
»Er hängt sehr an ihm, er wäre todunglücklich, wenn dem Knaben etwas zustieße«, bestätigte Hiske.
»Nicht nur er«, sagte Anneke, aber irgendetwas an ihren Worten kam der Hebamme seltsam vor. Nur konnte sie nicht sagen, was genau es war. Mit Anneke stimmte etwas nicht.
Jan taten die Glieder weh. Es war kein früher Morgen mehr. Dazu sangen die Vögel bereits zu laut, und die Sonne stand zu hoch am Himmel, auch wenn sie sich noch lange nicht endgültig durch den dichten Nebel gekämpft hatte. Sie sah aus wie ein verschwommener Ball, der in einer trüben Suppe badete.
Jan hatte, wie erwartet, nur schwer in den Schlaf gefunden, zu sehr drückten die dunklen Gedanken, zu unbequem war sein Nachtlager mit einer Decke über den Beinen, dem Gesumme der Mücken am Ohr und einem harten Birkenstamm im Rücken. Er stand auf, rieb sich die Augen und hüpfte ein paarmal auf und nieder, in der Hoffnung, etwas wacher zu werden und die Beine zu lockern. Er hatte länger geschlafen als vermutet. Nachdem ihm mit dem ersten Vogelgezwitscher die Augen zugefallen waren, war er entgegen seinen Befürchtungen doch in einen tiefen Schlaf hinübergeglitten.
Jan sortierte die Gedanken, musste sich entscheiden, wie er am heutigen Tag vorzugehen gedachte. Als Erstes überlegte er, aus welcher Richtung er am Abend zuvor gekommen war. Er untersuchte die Kerben und Pfeile, die er in die nahe liegenden Bäume geritzt hatte. Es war wichtig, dass er die Orientierung behielt. Anschließend besah er sich den Stand der Sonne ein weiteres Mal und beschloss, sich tiefer ins Moor, nach Westen, zu wagen. Er schulterte seinen Beutel und den Umhang um, den er am heutigen Tag nicht nur als Schutz gegen die Mücken brauchte, denn er fröstelte.
Jan holte sein Messer heraus und begann erneut, Kerben in die Rinde zu ritzen. Bei diesem Nebel, der wie ein silbernes Tuch wirkte, in dem sich immer wieder Sonnenstrahlen verfingen, würde die Orientierung noch schwerer sein als am Vortag, bevor die Dunkelheit hereingebrochen war. Jan bohrte seine Augen in das fast undurchdringliche feuchte Dickicht, lauschte jedem Geräusch nach. »Wortsammler! Wo bist du?«, rief er immer wieder, doch ihn begleitete nur das Schnattern der Enten oder das leise Singen der Vögel auf seinem einsamen Weg. Wenn Jan innehielt, konnte er dem Seufzen des Moores lauschen, das sich mit dem Surren der Insekten vermischte. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so allein gefühlt. Nicht, als er in Italien gewesen war, um in Bologna seinen Studien nachzugehen und zunächst große Mühe mit der Sprache hatte, kaum ein Wort von dem verstand, was die Menschen um ihn herum
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