Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
ständig und wirkt völlig abgelöst vom wirklichen Leben. Da erst erkennt das Mädchen, wie alt Amilia ist. Feine Furchen durchlaufen ihr Gesicht, umschlingen sich wie Fangarme und scheinen doch weiterzulaufen, bis sie sich am Hals oder in ihrem Kleid verlieren.
»Ich möchte so gern deinen Namen wissen«, sagt Amilia oft. Aber das Mädchen schweigt. Sie weiß ihren Namen ohnehin nicht mehr. Manchmal denkt sie, sie habe vielleicht auch nie einen gehabt. Immer wieder dringt Mutters Stimme an ihr Ohr, und da spricht sie stets von »dem Kind«. Das Kind, das es nicht wert war, mit dem Namen angesprochen zu werden. Das Kind, das schuld war an Mutters Unglück und ihrer verlorenen Liebe. Das Kind, das nie Röcke trug, sondern Beinkleider und doch ein so weibliches Gesicht hatte, dass jedermann sofort fragte, ob es wirklich ein Junge oder doch ein Mädchen sei.
Jetzt hat sie Rock und Schürze an, Amilia findet es wichtig, deutlich zu machen, was für ein Geschlecht sie hat. »Es ist ja gut, dass du eine Meisje bist«, lächelt sie jeden Morgen, wenn sie ihr die Schürze bindet. So wie Mutter es hätte tun sollen und ihr damit vielleicht viel erspart hätte.
Das Mädchen denkt oft an das Medaillon, an den Kristall darauf und die kleine Träne, die der Mann auf ewig für Mutter weint. Er weiß bestimmt nicht, wie sie zu Tode gekommen ist, und vermutlich ist es ihm auch egal. So egal wie das, was aus seinen Lenden entsprungen ist.
»Woran denkst du?«, fragt Amilia, wenn das Mädchen so in sich gekehrt dasitzt und nachdenkt.
»Meerkristall«, sagt es. »Ich denk an den Meerkristall und die wunderschöne Eisträne! Sie sollten Glück bringen.« Und es ist genau das Gegenteil passiert, fügt es in Gedanken hinzu.
Amilia drückt das Mädchen. So lange Sätze hat es noch nie gesagt. »Du wirst ganz gesund, kleine Meisje. Und dann werden wir tanzen vor Glück. So lange, bis wir nicht mehr können!«
Das Mädchen nickt, und immer häufiger wagt es, nach der Hand Amilias zu greifen. Sie hat derbe Schwielen, ist rau, und doch hat das Kind seit dem Tod der Mutter nie eine solche Wärme und Zärtlichkeit verspürt.
Hin und wieder träumt es von dem Stück Seife, das sie der Mutter geschenkt hat, und ihrem betörenden Duft. Das geschieht meist, wenn sie auf der Wiese sitzen, Blumenkränze flechten, ihnen der Duft des nahenden Sommers in die Nase kriecht und die Sinne benebelt. Genau das war der Duft dieses Seifenstückes. Die Illusion von Glück und Sommer. Der Seifensieder muss all diese Wiesenkräuter dort hineingepackt haben, um genau dieses Bukett, diese Süße zu erreichen. Es ist ihm so meisterhaft gelungen, dass das Mädchen ihn jetzt in der Nase hat, als halte es noch immer das Stück Seife davor.
»Woran denkst du?«, fragt Amilia, weil dem Mädchen ein Lächeln übers Gesicht gleitet. Es geschieht so selten.
»Seife«, sagt das Mädchen. »Ich denke an schöne und gut riechende Seife, die genauso duftet wie die Wiese.«
Amilia drückt sie. Schon wieder hat das Mädchen einen ganzen Satz gesprochen. »Was hast du armer Wurm bloß mitgemacht?«, fragt sie und streichelt das Mädchen.
Amilia bringt ihr alles über die Pflanzen bei, lehrt sie, Pilze zu bestimmen und Kräutersude herzustellen. Sogar das Ziehen von Unschlittkerzen zeigt sie ihr. Das alles macht dem Mädchen Freude. Es vermittelt ihr das Gefühl, etwas lenken zu können und zu etwas nütze zu sein. Ganz anders, als damals, als es die Latrinen säubern musste oder die voll gepinkelten Bodendielen im Findelhaus.
»Ich möchte Bader werden, bei ihm riecht es immer gut«, sagt das Mädchen. Es spricht jetzt jeden Tag. Fehlerlos. »Ich liebe Seife. Und die Kräuter dazu kenne ich ja nun.«
»Aber du kannst kein Bader werden, Meisje«, sagt Amilia. »Du bist ein Weib. Da musst du dir schon einen Bader zum Mann suchen, wenn du Seife so liebst.«
12. Kapitel
Hiske saß am Küchentisch, sie hatte in der vergangenen Nacht kaum schlafen können. Immer wieder glaubte sie, ein Schlagen gegen die Scheiben zu vernehmen, doch es war nur der Sturm, der ums Haus strich wie eine Katze auf der Suche nach Milch. Garbrand hatte sie fortgeschickt, er sollte besser auf dem Burghof weilen. Sie fürchtete das Gerede in der Neustadt, selbst wenn er ein alter Mann und Mönch war. Sie hatte einfach nicht die Kraft, das nun auch noch auszuhalten. Hiske vermisste den Wortsammler so sehr, dass es schmerzte. Dazu kamen Jans Worte, die sie Nacht für Nacht quälten. Selbst wenn er
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