HISTORICAL Band 0264
Gewissensbisse. Die Begierde, die ihn überfallen hatte, als er Blairs Lippen unter seinen spürte, hatte alle guten Manieren und bürgerlichen Moralvorstellungen verdrängt. Sein Verlangen hatte sich nicht bändigen lassen und Befriedigung verlangt. War er nicht schon seit geraumer Zeit ein Dieb? Nein, was er tat, geschah nur, um anderen Menschen das wiederzugeben, was man ihnen zuvor genommen hatte. Er bereute sein Handeln nicht.
Anfangs hatte er, in die Highlands zurückgekehrt, der Bevölkerung das schwere Los durch die Wohltaten erleichtern wollen. Nur allzu schnell hatte er einsehen müssen, dass die Leute von Glenmuir ihn und sein Geld nicht wollten. So war ihm der Einfall gekommen, unerkannt Gutes zu tun und praktische Geschenke zu verteilen, Dinge, welche die Menschen bitter nötig hatten. Die unerklärliche Großzügigkeit wäre jedoch unweigerlich auf ihn zurückgefallen, da er allein oft in der Gegend weilte und sich derlei Gaben leisten konnte. Die starrsinnigen Hochlandbewohner hätten sich bestimmt geweigert, etwas von ihm anzunehmen. Aus diesem Grund war er darauf verfallen, einen Diebstahl zu melden, ehe die unerwarteten Spenden zum ersten Male vor den Türen der Ärmsten lagen. Er wusste, man würde seinen Schaden mit den Geschenken in Verbindung bringen und sich doppelt darüber freuen. Natürlich hätte er die ihm durch seine Menschenfreundlichkeit entstehenden Kosten mit seinen Vorräten ausgleichen können, aber der Zorn hatte ihn dazu getrieben, auch von anderen zu nehmen. Auf die Dauer schien es unerträglich, tatenlos zuzusehen, wie seine Landsleute die Einheimischen ausnutzten und ungestraft davonkamen. Denn die Engländer waren nichts anderes als Räuber, die allerdings das Gesetz auf ihrer Seite hatten. So hatte er begonnen, ausgleichende Gerechtigkeit zu üben.
Die Uhr schlug zehnmal, und er beschloss, sich unter die Gäste im Ballsaal zu mischen. Bald würde man zu Tisch gehen, und danach konnte er sich zurückziehen. Die Erkältung bot ihm eine gute Ausrede zu verfrühtem Aufbruch. So lästig das Niesen auch war, er würde sich nicht abhalten lassen, unterwegs noch einen heimlichen Halt einzulegen, dessen Folgen einer der Anwesenden später sehr bedauern würde. Mit grimmigem Lächeln stand er auf und stellte das leere Glas auf ein Tischchen. Wenigstens würde der Abend nicht ganz spannungslos verlaufen, und nach der Heimkehr war Cameron gewiss zu müde, über Blair Duncan nachzudenken. Nach dem inneren Aufruhr, in den ihn die letzte Begegnung mit ihr versetzt hatte, empfand er kein Verlangen, sie jemals wiederzusehen.
Cameron, Earl of Lindsay, war kaum im Ballsaal und noch nicht weit gekommen, als er Miss Duncan sah. Inmitten der blässlichen englischen Damen wirkte sie wie das pralle Leben. Ihr Anblick weckte seinen Zorn. Sie hatte jede seiner Einladungen ausgeschlagen, alle Bitten, ihn zu besuchen, abgelehnt, aber Harrys Gesellschaft beehrte sie mit ihrer Anwesenheit, obwohl sie seinem Freund erst ein einziges Mal begegnet war.
Eifersüchtig geworden, fragte sich Cameron, ob Harry vielleicht von Blair und ihren Ländereien so beeindruckt war, dass er ihr nachstellte, obgleich er verheiratet war? Oder er dachte daran, den absurden Plan zu verfolgen und Miss Duncans Bekanntschaft zu pflegen, um Blair mit einem Neffen zu verkuppeln? Weder die eine noch die andere Möglichkeit passte Cameron, und zielstrebig ging er auf Miss Duncan zu. Erst kurz hinter ihr verlangsamte er den Schritt, setzte eine gleichgültige Miene auf und blieb stehen, ohne von Miss Duncan bemerkt zu werden.
„Ich glaube, Sie feiern Silvester als das eigentliche Fest dieser Zeit“, äußerte soeben Lady Haverbrook. „Wie sonderbar!“
„Aber gewiss ist es eine sehr fröhliche Angelegenheit“, warf ihr Gatte ein, als Miss Duncan verstimmt die Stirn krauste. Dann sah er den Earl of Lindsay, dessen starre Miene und den mordlüsternen Ausdruck in den Augen und lächelte. Der Abend versprach, aufregend zu werden.
Blair wusste, dass die Comtess of Haverbrook sich herzlich wenig für schottisches Brauchtum interessierte, und sagte kühl: „Natürlich zieht jeder die eigenen Traditionen allen anderen vor. Deshalb begreife ich nicht, warum Sie in den Highlands bleiben, statt nach England zurückzukehren.“
„Ich denke ebenso“, bekannte Lady Haverbrook und warf dem Gatten einen scharfen Blick zu. „Doch die Herren wollten es so haben.“
„Aber Liebste, du weißt genau, warum wir diesmal das Fest hier
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