HISTORICAL Band 0264
übertreffen. Blairs Zuwendungen wurden von den Menschen in Glenmuir gern entgegengenommen, die des großzügigen Spenders dagegen bereiteten ihnen freudige Überraschung.
Blair fragte sich, ob er auch in diesem Jahr wieder in Erscheinung treten würde. Wollte sie überhaupt, dass er wiederkam? In Wahrheit lenkten seine reichlichen Spenden etwas von ihren bescheideneren ab. Aber in den vergangenen drei Jahren hatte er oft notwendige Dinge geschenkt. Wie konnte sie über sein Eingreifen ungehalten sein, besonders im Hinblick auf die Bedürfnisse der Leute?
Unwillig verdrängte sie die quälenden Fragen. Jeder verdiente Nächstenliebe, ganz gleich, aus welcher Quelle sie kam, und keinem durfte sie verweigert werden. Trotzdem vermisste Blair in diesem Jahr die herzliche Mitfreude, die sie sonst empfunden hatte. Es war keinesfalls allein die Schuld des unbekannten Wohltäters, dass sie diesmal das Besorgen der Geschenke, die Herstellung der Marmelade, selbst das Bewusstsein, ihr weniges Hab und Gut zu teilen, eher als unliebsame Verpflichtung und nicht als fröhliches Unterfangen empfand. Wahrscheinlich war das auf das unerwartete Erscheinen Lord Lindsays zurückzuführen, der sie zu verfolgen schien, wo immer sie sich befand, sei es auf der Straße von Glenmuir oder in der eigenen Küche. Nie zuvor hatte der Earl ihr so hartnäckig nachgestellt und ihr den Hof gemacht, trotz ihrer deutlich zur Schau getragenen Abneigung.
In der vergangenen Nacht hatte Blair sich endlich von seiner beunruhigenden Gegenwart verschont geglaubt. Selbst wenn sie sich einredete, seinem Charme gegenüber unempfindlich zu sein, ließ sich nicht abstreiten, dass er unvermindert galant war und sie ihn beeindruckend attraktiv fand, ungeachtet seines Desinteresses an seinem schottischen Erbe. Sie wischte sich die Nebeltropfen vom Gesicht. Schade, dass seine Mutter ein Einzelkind gewesen war, denn sonst hätte gewiss noch einer aus dem Clan der Connerys in Glenmuir gelebt. Die früheren Pächter wären nicht ans andere Ende der Welt vertrieben worden, nur weil Lord Lindsay falsche Ansichten vertrat. Neu-Kaledonien lag auf der anderen Seite der Erdkugel, so wenigstens sagte Pater MacKenzie, und doch hatte es die MacLeods dorthin verschlagen, weil die Fischerei in den Sutherlands die Familie nicht mehr ernährte. Zum Satan mit allen Engländern, insbesondere aber mit dem Earl of Lindsay! Aber für ihn, diesen hitzigen Teufel, war vermutlich selbst das wildeste Höllenfeuer nicht heiß genug!
Mit finsterer Miene stapfte Blair dem Hause zu. Sie kümmerte weder die feuchte Kälte des Dezembernachmittags noch die dunklen Wolken, die sich am Himmel über ihr zusammenballten. Ehrliche Empörung brachte ihr Blut in Wallung, sobald sie an die englischen Eindringlinge dachte, und der Gedanke, dass Lord Lindsay unweigerlich einem düsteren Schicksal entgegensah, bereitete ihr das größte Vergnügen, während sie in den dichter werdenden Nebel wanderte.
Plötzlich sah Blair den Earl of Lindsay vor sich. Er ritt einen stattlichen Grauschimmel und streckte den Arm aus, als wolle er sie einfach vor sich in den Sattel heben.
„Was wollen Sie von mir?“, fragte sie und wich zurück. „Ich versichere Ihnen, ich habe nichts von Ihrem Grund und Boden gestohlen!“
„Das habe ich auch nicht angenommen“, erwiderte er gereizt. Auf dem Heimweg von einer Teestunde bei den Enrights, wo er sich ein wenig umgesehen hatte, was er ihnen für die Dorfbewohner rauben könne, war er auf Blair Duncan aufmerksam geworden, die völlig durchnässt die Wiese überquerte. Und nun wollte sie sich nicht vor der Unbill des Wetters schützen lassen! Er zügelte den Hengst, bezwang den aufsteigenden Unwillen und sagte unwirsch: „Miss Duncan, das Wetter ist trügerisch. Ich möchte Sie nur vor einem Wolkenbruch bewahren.“
„Ein bisschen Nebel hat noch keinem geschadet“, entgegnete sie kalt, obgleich ihr bei Lord Lindsays Anblick die Hitze in die Wangen gestiegen war. Gestern Abend hatte sie höflich sein müssen, jetzt jedoch gab es keine Zeugen. „Es würde mich nicht überraschen, wenn Sie vergessen hätten, wie gerne wir als Kinder durch den Regen rannten und uns vorstellten, die Tropfen könnten uns nicht treffen.“
„Inzwischen sind wir beide allerdings ein wenig größer geworden und finden gewiss keinen Platz mehr zwischen den Tropfen, ohne nass zu werden.“ Cameron, Earl of Lindsay, musste plötzlich lachen und war überrascht, welches Vergnügen ihm die
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