HISTORICAL Band 0264
Bowes sich wieder zu ihm gesellte. Die meisten Frauen, mit denen er in Monte Carlo, Biarritz und Paris ausgegangen war, hatten ihn immer mindestens eine Stunde warten lassen. Dieses Warten hatte sich seiner Meinung nach nie gelohnt. Spröde, mondäne Frauen der Gesellschaft langweilten ihn mittlerweile; sie schienen alle aus demselben Holz geschnitzt zu sein, die eine so oberflächlich und nichtssagend wie die andere. Er hatte kein Interesse an Affären mit diesen blasierten Geschöpfen, und den Gedanken, sich eine unschuldige Braut zu suchen, wie sein Vater es verlangte, ertrug er auch nicht. Er wusste, dass er übersättigt war; niemand konnte ihn in Versuchung führen.
Niemand interessierte ihn, außer Sally Bowes mit ihren kühlen haselnussbraunen Augen und ihrer zurückgenomme nen Eleganz.
Als er sie an diesem Nachmittag gesehen hatte, war sie ihm farblos, spröde und zurückhaltend vorgekommen, also genau das Gegenteil von dem, was er sich unter einer der berüchtigten Animierdamen des Blue Parrot vorgestellt hatte. Doch da war noch die Erinnerung an die vergangene Nacht und an die faszinierend sinnliche Erscheinung in dem pfirsichfarbenen Kleid. Er hatte ihre Gesellschaft sehr genossen und sie besser kennenlernen wollen. Und der fast erschrockene Ausdruck vorhin in ihren Augen ließ ahnen, dass auch er ihr nicht gleichgültig war. Das unerwartete Knistern zwischen ihnen überraschte und faszinierte ihn. Als er dann herausgefunden hatte, dass sie sogar die Eigentümerin des Clubs war, hatte das sein Interesse noch weiter angestachelt. Das war eine Frau, die über beträchtliche Charakterstärke, Intellekt und Erfolgswillen verfügen musste; dazu strahlte sie einen Reiz aus, den er umwerfend attraktiv fand. Sie war eine Herausforderung, ein Rätsel; kühl und beherrscht, doch gleichzeitig ließ sie ein feuriges Temperament unter der Oberfläche erkennen. Er hatte fast vergessen, wie es war, sich stark zu einer Frau hingezogen zu fühlen, doch jetzt drohte ihn das Verlangen zu überwältigen. Er musste sie einfach haben.
Frauen. In seiner Jugend waren sie seine große Schwäche gewesen. Er war genauso verantwortungslos gewesen wie sein Cousin Bertie – sogar noch schlimmer, wenn man ehrlich sein wollte. Er hatte sich den unglaublichsten Exzessen hingegeben. Und dann hatte er sich verliebt, und das war die mit Abstand vernichtendste Erfahrung seines Lebens gewesen, eine, die sich niemals wiederholen durfte.
Jack schüttelte den Kopf, um diese Erinnerungen zu vertreiben, und trank einen Schluck von dem kühlen Champagner. Als er vor sechs Monaten vom Kontinent nach England zurückgekehrt war, hatte ihn sein Vater beiseitegenommen und mürrisch zu ihm gesagt: „Nachdem du jetzt selbst zu Geld gekommen bist und alles versucht hast, dich umbringen zu lassen, Junge, versuch wenigstens deinen Fehltritt wiedergutzumachen, indem du eine passende Ehe eingehst.“
Seinen Fehltritt. Bei dieser Untertreibung seines Vaters verzog Jack spöttisch die Mundwinkel. Nur Lord Robert Kestrel konnte Jacks skandalöses Durchbrennen vor zehn Jahren und den anschließenden Tod seiner verheirateten Geliebten wie einen Schulbubenstreich aussehen lassen.
Ein Jahrzehnt früher, als sich der Skandal zugetragen hatte, war das noch etwas ganz anderes gewesen. Jack, gerade einundzwanzig Jahre alt, hatte kürzlich erst seinen Abschluss in Cambridge gemacht und war voller hochgesteckter Ideale und ausgefallener Pläne gewesen, Pläne, die in sich zusammengestürzt waren, als Merle ums Leben gekommen war. Die Angelegenheit war natürlich vertuscht worden, doch in der Familie hatten sich die schrecklichsten Szenen abgespielt – sein Vater in grenzenlosem Zorn, seine Mutter gramverzehrt und entsetzt. Die Enttäuschung, die er in den Augen seiner Mutter gesehen hatte, hatte ihm den Rest gegeben. Den Zorn seines Vaters hätte er vermutlich ertragen können, da er wusste, dass er berechtigt war, aber die stummen Vorwürfe seiner Mutter trafen ihn bis ins Mark. Er war der einzige Sohn, aber er hatte ihre Achtung zusammen mit dem Respekt seines Vaters verloren. Seine Mutter hatte auf der Treppe von Kestrel Court gestanden und ihm nachgeblickt, als er sein Zuhause in Schande verlassen musste. Er hatte sie nie wiedergesehen; sie war gestorben, während er im Ausland war.
Jahrelang war er den Frauen gänzlich aus dem Weg gegangen. Er hatte sich zuerst in den Kampf gegen die Buren in Südafrika gestürzt und sich später der französischen
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