HISTORICAL Band 0264
Unbeholfen vor Eile nestelte sie an den Knöpfen herum. Im hellen Licht des Eingangsbereichs und erst recht unter Jack Kestrels abschätzenden Blicken hatte sie sich in ihrer Bürokleidung sehr unansehnlich gefühlt.
„Connie ist unglücklich“, erklärte sie und stieg aus ihrem braunen Glockenrock. „Sie hat John geliebt und ist seitdem nie wieder glücklich gewesen. Aber die Ursache liegt noch weiter zurück, Matty. Es fing an, als unser Vater starb. Es ist alles meine Schuld.“
„Reden Sie nicht so.“ Mrs. Matsons Mundwinkel bogen sich nach unten. „Ich habe es Ihnen nicht einmal, sondern schon hundertmal gesagt, Miss Sally. Sie tragen keine Schuld am Tod Ihres Vaters.“
Sally schwieg. Es stimmte, sie hatten diese Diskussion schon oft geführt, und ihr Verstand sagte ihr, dass sie wirklich nicht unmittelbar für Sir Peter Bowes’ Tod verantwortlich war. Trotzdem machte sie sich täglich neue Vorwürfe, weil sie ihn vielleicht hätte verhindern können. Vielleicht hätte sie ihren Vater retten können …
„Ich weiß nicht, was ich mit Connie machen soll“, meinte sie nach einer Weile. „Ich finde keinen Zugang mehr zu ihr.“
„Sie haben es versucht.“ Matty bückte sich ächzend, um den Rock vom Boden aufzuheben. „Sie versuchen es pausenlos. Es wird Zeit, dass Sie zur Abwechslung mal an sich selbst denken, Miss Sally, wenn ich das so sagen darf. So, und wer ist nun der Herr, mit dem Sie zu Abend essen werden?“
Sally seufzte. „Mr. Kestrel. Er ist gekommen, um sich die Briefe aushändigen zu lassen, mit denen Connie offenbar seinen Onkel erpresst.“
Mrs. Matson gab ein Geräusch von sich, das an eine Dampf ausstoßende Maschine erinnerte. „Mr. Jack Kestrel? Derjenige, der mit irgendeiner Frau durchgebrannt ist und seiner Mutter das Herz gebrochen hat?“
„Höchstwahrscheinlich.“
Wenn je ein Mann dazu geboren war, Schande über eine Frau zu bringen, dann war es Jack Kestrel.
Matty schnalzte mit der Zunge. „Ich weiß noch, die Sache stand in allen Zeitungen. Seine Geliebte war verheiratet, als sie mit Mr. Kestrel durchbrannte. Ihr Ehemann nahm die Verfolgung auf. Sie wurde erschossen, und es gab einen schrecklichen Skandal.“
„Wie furchtbar“, meinte Sally und erschauerte. Sie fragte sich, welche Auswirkungen eine solche Tragödie wohl auf den jungen Jack Kestrel gehabt haben mochte.
„Alter Adel, diese Familie“, fuhr Matty fort. „Ihr Mr. Kestrel hat eine vornehme Ahnenreihe, die Hunderte von Jahren zurückreicht. Es heißt, er habe sämtliche ausschweifenden Laster seiner Vorfahren geerbt, und die Geschichte mit seiner Geliebten ist wahrscheinlich der Beweis dafür.“
„Hatten die Kestrels auch irgendwelche Tugenden?“, wollte Sally wissen.
Darüber musste Matty angestrengt nachdenken. „Viele von ihnen waren bei der Armee, also waren sie vermutlich sehr mutig. Mr. Kestrel hat sich der Fremdenlegion angeschlossen, nachdem er verbannt worden war. Ich habe gehört, man hat ihm viele Tapferkeitsmedaillen verliehen.“
„Ich glaube eher, er hat versucht, dabei den Tod zu finden“, sagte Sally. „Woher weißt du nur all diese Dinge, Matty?“
„Ich weiß alles“, gab Matty selbstzufrieden zurück. „Er ist gefährlich, Miss Sally. Nehmen Sie sich vor ihm in Acht. Mit seinem Charme lockt er die Vögel von den Bäumen und die Damen in sein Bett, o ja.“
„Matty!“, rief Sally entsetzt und wurde rot. „Bei mir gelingt ihm das nicht.“
„Das wäre auch besser so“, meinte Matty. „Was Sie nach Ihrem schrecklichen Ehemann brauchen, ist ein netter junger Mann, Miss Sally, keinen Schürzenjäger. So, und wie wäre es nun mit dem goldfarbenen Abendkleid von Fortuny für heute Abend?“
„Nein, danke.“ Sally betrachtete nachdenklich die Kleider auf ihrem Bett. „Ich glaube, heute Abend nehme ich das gerade geschnittene Poiretkleid. In dem fühle ich mich mutiger.“
„Dann werden wir ein anderes Korsett wählen müssen“, erwiderte Matty missbilligend. „Ich mag diese neumodischen Unterkleider nicht. Wenn das so weitergeht, gibt es bald gar keine Korsetts mehr, und wo kommen wir dann hin? Was ist denn so schlecht an den alten, bewährten Dingen, frage ich mich?“
„Man kann in ihnen nicht atmen.“
„Ich kann nun schon seit fast siebzig Jahren ausgezeichnet atmen“, empörte sich Matty. „Es schadet nicht, sich ein wenig fester zu schnüren. Setzen Sie sich, ich frisiere jetzt Ihr Haar.“
Sally nahm gehorsam vor dem großen Spiegel Platz,
Weitere Kostenlose Bücher