Historical Collection Band 5
hatte. Eigentlich hätte er von selbst ihre Geschichte anzweifeln müssen. Sie war zwar nicht in feinste Seidengewänder gekleidet, wie Elitekurtisanen sie trugen, aber wie eine von den billigen Teehaushuren sah sie nun auch nicht aus. Und ganz gewiss nicht wie eine, die dumm genug war, sich heimlich und uneingeladen in die Privaträume eines Mannes zu schleichen. Diese arroganten Scholaren.
„Ihr solltet jetzt besser gehen.“ Er schien eher müde als arrogant zu sein, als er zur Seite trat, um ihr Platz zu machen.
„Ja, ich sollte gehen“, wiederholte sie und verstand nicht ganz, warum sie eigentlich nicht schon längst weg war. Sie ging auf die Tür zu, aber dann hielt sie inne und drehte sich um. „Ich habe Euch meinen Namen gesagt.“ Na ja, eigentlich nicht so ganz. „Und wie heißt Ihr?“
„Luo Cheng.“
Sie sah ihm zu, als er ihr den Rücken zudrehte, um die Öllampe auf den Schreibtisch zu stellen. Dieser Mann war ganz anders gebaut als die verwöhnten Scholaren, die Jahr für Jahr in den akademischen Hallen der Hauptstadt ankamen und schon bald wieder gingen. Sie wurde neugierig.
„Wie der berühmte General“, sagte sie vorsichtig.
Er betrachtete sie mit einem merkwürdigen Blick über die Schulter. „Ja, wie der General“, antwortete er seufzend. Tatsächlich passte Cheng äußerlich eher in die kaiserliche Armee als in eine zivile Behörde.
Ein kurzer Blick auf ihn hatte ihr genügt, um zu erkennen, dass er mit leeren Händen hereingekommen war, also musste es ihren Kumpanen geglückt sein, ihm das Buch zu rauben. Sie würde in ihre Unterkunft zurückkehren, die Truppe auszahlen und das gestohlene Buch erhalten.
Cheng hatte sich inzwischen an seinen Schreibtisch gesetzt. Er zog ein halbes Tintenstäbchen hervor, dann stoppte er, hielt dabei aber weiter den schwarzen Stummel in der Hand.
„Junge Dame … Rose?“
„Ja?“ Sie sah ihn an.
Bei Licht wirkte er gar nicht so furchteinflößend. Eigentlich schien er sogar ziemlich ernst und sensibel zu sein. Sie hatte nicht viel über ihn in Erfahrung bringen können, aber ihren Erkenntnissen zufolge hatte sie etwas völlig anderes erwartet, nämlich den üblichen Verschwender. Die Trinkhäuser im Norddistrikt waren voll von Studenten und genügend Wein, um den Großen Fluss damit zu füllen, der das Stadtzentrum durchfloss. Die jungen Männer blieben gewöhnlich in den Pavillons, bis ihre Taschen leer waren, und sie wussten meistens nicht einmal, ob es draußen Tag oder Nacht war. Cheng hingegen war früh zu seinem Zimmer zurückgekehrt, und sie roch weder Alkohol noch Parfüm an ihm. Er schien bereit zu arbeiten, nur ihr Eindringen hatte ihn wohl bisher davon abgehalten.
„Soll ich Euch nach Hause begleiten?“, fragte er mit unsicher klingender Stimme.
Auch noch ein Ausbund an Höflichkeit und Ritterlichkeit! Plötzlich fühlte sie sich schuldig, weil sie ihn hatte ausrauben lassen, aber dennoch: Trotz all seiner guten Manieren war er ein größerer Dieb als sie. Das Buch hatte ihm nicht gehört, sondern er hatte es aus dem Lotuspavillon mitgenommen.
Strenggenommen gehörte es ihr natürlich auch nicht – aber mittlerweile irgendwie doch, denn sie hatte dafür bezahlt oder zumindest ihr weniges Geld dafür ausgegeben, es zu bekommen, in der Hoffnung, dass dieses Wagnis sich auszahlen würde.
„Lebt wohl.“ Sie deutete eine kleine Verbeugung an und zog sich zur Tür zurück. „Meister Luo.“
Er sah ihr vom Schreibtisch aus nach, als sie hinausging und die Tür schloss. Als sie endlich draußen war, eilte sie vom Vorplatz auf die Straße und folgte dem Schein der Laternen zurück bis in das Herz des Norddistrikts. Auf beiden Seiten der Straße befanden sich Trink- und Teehäuser, die mit bunten Spruchbändern geschmückt waren.
Als Musikantin war sie an das Kommen und Gehen im Norddistrikt gewöhnt. Fremde kamen an, hatten innerhalb einer Stunde gute Freunde und wussten am nächsten Morgen nichts mehr davon. Im Vergnügungsviertel konnte man niemandem vertrauen.
Cheng wusste offenbar nicht, was für einen Schatz er in den Händen gehabt hatte. Vermutlich hatte er das Buch als Souvenir nach einer ausschweifenden Nacht im Lotuspavillon mitgenommen – obwohl sich Jia ziemlich sicher war, dass sie ihn nie dort gesehen hatte. Und wenn sie darüber nachdachte, auch nicht bei einer ihrer sonstigen musikalischen Darbietungen. Sie kehrte zur Halle der Musiker zurück, wo ihre Truppe wohnte. Der Eingang wurde markiert von
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