Historical Collection Band 5
zerrissenen gelben Laternen. Ihre Musiktruppe befand sich draußen im Innenhof, und man trank gemeinsam einen Becher Wein unter dem offenen Sternenhimmel.
„Oh Göttin der Schönheit und des Lichts!“
Jia fauchte sie an wie eine Tigerin, und sie lachten. Immerhin fand sie diesen Namen besser als die anderen, mit denen sie sonst von ihnen bedacht wurde. Großmutter. Altes Weib. Alte Jungfer. Sie war noch keine vierundzwanzig Jahre alt, aber in der schnelllebigen Welt der Kurtisanen wurde sie allmählich zu einem Relikt. Wenn sie sich besser darauf verstehen würde, freundlich zu lächeln und sich kokett zu verhalten, wäre es vielleicht nicht so mühsam, ein paar Münzen mehr zu verdienen. Aber es war nun mal so, dass niemand eine alternde Pipaspielerin sehen wollte, wenn man auch eine junge, hübsche haben konnte. Wenn sie nicht bald ihre Freiheit erlangte, saß sie wahrscheinlich mit dreißig Jahren als Bettlerin auf der Straße. Wie die meisten Unterhaltungskünstler im Viertel schuldete sie dem Leiter ihrer Truppe Geld dafür, dass er sie als Kind aufgenommen und zur Musikantin ausgebildet hatte. Jeder Bissen Reis, den sie jemals gegessen hatte, war von ihm angerechnet worden, und bei jeder Vorführung behielt er zwei Drittel von ihren Einnahmen. Sie würde immer weniger Geld verdienen, aber ihre Schulden wuchsen immer weiter an. Die nächsten sechs Jahre lang konnte sie sich Nacht für Nacht die Finger wund spielen und würde doch nie genug Geld haben, um ihre Schulden abzuzahlen.
„Wo ist das Buch?“, fragte sie.
Der Flötenspieler hielt sich ein blutbeflecktes Tuch an die Nase. „Dein Liebhaber schlägt ziemlich hart zu.“
„Er ist nicht …“ Jia atmete langsam aus, um sich zu beruhigen. Diese Männer taten das doch nur, weil sie immer so schön wütend wurde. „Er ist nicht mein Liebhaber. Das Buch. Sofort.“
Die Musiker schubsten sich gegenseitig, grinsten und machten dumme Bemerkungen über zurückgewiesene Frauen. Sie blieben dabei, dass Jia sie nur dafür bezahlt hatte, den Scholaren auszurauben, weil sie sich an ihm rächen wollte. Sollten sie doch ihre wenig fantasievollen Geschichten weitererzählen – sie würde bald von hier weg sein und nie mehr ihre hässlichen Gesichter sehen müssen.
Ein Pipakollege zog eine Tasche unter seinem Sitz hervor. „Hier“, sagte er und ließ den Beutel vor ihrem Gesicht baumeln. „Und vergiss nicht, dass du uns Geld schuldest.“
Sie zählte die Münzen aus ihrer Geldbörse ab und schlug sie klatschend auf seine ausgestreckte Hand. Gleichzeitig griff sie nach der Tasche.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer versuchte sie bereits, die Knoten an dem Beutel zu lockern. Sie hatte eine gute Abendgage verpasst, denn heute hätte sie die Chance gehabt, bei einem offiziellen Hofbankett zu spielen. Weitere fünfzig in bar hatte sie den Hundesöhnen im Hof draußen gegeben, damit sie Cheng auflauerten, aber das Tagebuch konnte ihr hundertmal so viel einbringen.
Sie betrat leise ihr Zimmer, bevor sie den letzten Knoten aufzog. Beim Anzünden der Öllampe zitterten ihre Finger vor Aufregung. Es waren mehrere Bücher in der Tasche. Sie blätterte schnell das erste durch, auf der Suche nach den kostbaren Gedichtzeilen, die ihr die Freiheit verhießen.
Es war eine Abhandlung über die Geschichte der späten Han-Dynastie. Sie warf das Buch beiseite und nahm sich das kleinere Notizbuch vor. Es hatte einen einfachen Einband, ohne die erwarteten Ornamente.
Sie überflog die Seiten, und mit jeder ordentlich geschriebenen Reihe schwarzer Schriftzeichen verstärkte sich das beklemmende Gefühl in ihrer Brust. Seite für Seite, vor oder zurück – die Schriftzeichen blieben unverändert. Keine Poesie. Keine lustigen oder genialen Worte waren in dem Buch zu finden, die ihr Tausende in bar bringen konnten. Sie fühlte das schöne Geld wie Sand durch ihre Finger rieseln. Dies war ihr Ende. Sie war auf dem Weg ins Jenseits. Wie hatte ihr Plan so schiefgehen können?
Sie konnte zwar vielleicht noch in den Innenhof stürmen und ihr Geld von ihren Kollegen zurückverlangen, aber man würde sich nur über sie lustig machen. Irgendwie musste der Scholar daran schuld sein. Luo Cheng hatte das, was sie haben wollte, in seinem Besitz, und sie würde es bekommen, und wenn sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen musste.
2. KAPITEL
D ie kurze Nachricht forderte ihn auf, sie am Park an der Straße des Langen Lebens zu treffen. Der Zettel musste von der faszinierenden Rose sein. Er
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