Historical Collection Band 5
konnte beinahe ihr Parfüm an dem gefalteten Papierstreifen riechen, den jemand unter seiner Tür hindurchgeschoben hatte.
Die Straße war gedrängt voll von Menschen und Fahrzeugen, denn es war Mittagszeit, und dies war die belebteste Straße des Viertels. Sie führte vom Ostmarkt mit seinem bunten Treiben mitten durch das Herz des Norddistrikts. Cheng bahnte sich den Weg an den mit Körben beladenen Karren und zahlreichen Straßenhändlern vorbei, bis er zu der grauen steinernen Trennmauer kam, die an den Park grenzte.
Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und beim Schreiben einen kompletten Tintenstab zermahlen, um den verfluchten Aufsatz noch einmal neu zu verfassen. Die Prüfungsbeamten nahmen Darbietungen von Poesie und kurzen Texten bei der sogenannten Übergabe der Schriftrollen als informelle Einführung vor dem offiziellen Examen entgegen. Infolge seiner unkultivierten Erziehung war Cheng bei der letzten Examensperiode diese Tradition nicht bekannt gewesen, und man hatte ihn als einen Niemand bei der mündlichen Prüfung komplett übergangen.
Die meisten der jugendlich aussehenden Scholaren, die die Stadtviertel bevölkerten, hatten Väter und Großväter aus angesehenen Kreisen und trugen bedeutende Namen. Sie hatten ihr Examen praktisch schon in der Tasche. Cheng war in die Hallen der Akademiker nur durch Empfehlung aufgenommen worden. Der oberste Beamte in seinem Bezirk hatte sich bei Minister Lo für ihn eingesetzt, der daraufhin die Reise in die kaiserliche Hauptstadt zu den Prüfungen finanziell unterstützt hatte. Dies war Chengs letzte Chance, sich über den Status seiner Geburt zu erheben und seiner Familie und Heimatstadt Ehre zu bringen. Er würde jede Regel und jede Tradition genauestens befolgen, wenn ihm das dabei helfen konnte, sein Ziel zu erreichen.
Die passenden Worte für den Text hatten ihm jedoch gestern überhaupt nicht einfallen wollen, egal wie sehr er sich bemühte. Die Inspiration, die er so nötig brauchte, hatte ihn gänzlich im Stich gelassen. Nur Rose war es gelungen, einen bisschen Glanz in einen ansonsten sehr trüben Abend zu bringen.
Er hielt am Eingang zum Park an und strich die Vorderseite seiner Tunika glatt.
Jia stand drinnen hinter dem Tor und wartete am Rande des Rasens, den Rücken zu ihm gewandt. Sie war anders gekleidet als am vergangenen Abend, trug heute eine lange graue Tunika über langen Hosen. In dieser Farbe war sie von den grauen Steinbauten der Umgebung kaum zu unterscheiden. Es war nicht das, was er erwartet hatte, obwohl er nicht so genau wusste, was das eigentlich war. Aber er hatte ein paar schöne Fantasien gehabt …
„Rose!“
Sie antwortete nicht. Cheng musste noch einmal ihren Namen rufen und stand schon fast neben ihr, als sie erschrocken herumfuhr.
„Ihr habt mich erschreckt“, sagte sie vorwurfsvoll.
„Ich habe Euch gerufen.“
In der Enge seines kleinen Zimmers hatte sie gestern sehr verführerisch ausgesehen, doch heute, im sonnigen Park, machte sie einen ganz anderen Eindruck. Ihre Haut war blass und glänzte, ihre Lippen waren nicht geschminkt. Die ganze Nacht über hatte er an ihr Gesicht gedacht, während er Verse über bürgerliche Pflichten verfasste. Rose war eher als interessant denn als schön im landläufigen Sinn zu bezeichnen. Ihre Mandelaugen schienen zu groß für ihr Gesicht zu sein, und ihr Kinn lief nach unten spitz zu wie das einer Katze.
Schon wieder hatte es ihm die Sprache verschlagen, und ihm fiel nichts Passendes ein, das er hätte sagen können. „Ihr habt mir eine Nachricht geschickt“, stotterte er.
Sie sah rückwärts über ihre Schulter, bevor sie einen unergründlichen Blick auf ihn warf.
„Seid Ihr schon einmal im Lotuspavillon gewesen?“ Diese Pagode ragte gleich hinter den Ladenzeilen hoch in den Himmel. Mit ihren grünen glänzenden Dachziegeln war sie ein unverwechselbares Wahrzeichen des Norddistrikts. Nachts wurde das Dachgesims mit unzähligen Laternen geschmückt, und selbst wenn man noch so stumpfsinnig oder betrunken war, wusste man immer, wo man sich befand, weil die Pagode so hell beleuchtet war.
„Ich kann es mir nicht leisten, im Lotuspavillon trinken zu gehen“, sagte er verlegen grinsend. „Tretet Ihr manchmal dort drinnen auf?“
„Natürlich nicht“, sagte sie knapp, mit der gleichen ablehnenden Haltung, die sie gestern zur Schau getragen hatte. Sie machte eine theatralische Bewegung mit der Hand. „Wenn ich im Lotuspavillon arbeiten würde, wäre ich dann hier
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