Historical Exclusiv 45
begriffen hatte, dass sie keine widerspenstige Bauernmagd war, die Othar sich in den Kopf gesetzt hatte. „Du benimmst dich wie ein Narr. Wenn das Rorik hinter uns ist, hat er nicht die Absicht, einen Kampf auf hoher See auszufechten. Sein Segel ist immer noch gehisst.“
„Natürlich. Es ist der Seedrache , du Idiot. Denkst du, ich erkenne das Schiff meines Bruders nicht?“ Othars Arm schnürte Yvaine die Kehle zu.
„Ja, es ist Rorik. Dann nenne mir einen guten Grund, warum ich gegen ihn kämpfen soll.“
„Ich bin Roriks Frau“, keuchte Yvaine, die kaum noch Luft bekam. „Othar …“
„Halt den Mund!“ Othars Stimme war eiskalt, so kalt wie die Klinge, die er ihr an die Kehle setzte.
Diesen Dolch habe ich schon einmal gespürt, dachte sie in wilder Verzweiflung. In jener Nacht am Strand …
Die Erinnerung löste sich in schwarzem Nebel auf, das Blut rauschte ihr in den Ohren, doch dann lockerte Othar seinen Griff, drängte sie gegen den Schiffsrumpf, packte sie am Nacken und zwang sie, sich weit über den Bootsrand zu beugen. „Keine Bewegung, Kalf, sonst schlitze ich ihr die Kehle auf.“
Kalf gehorchte. Auch die anderen blieben wie angewurzelt stehen.
Von diesen Männern konnte sie keine Hilfe erwarten. Yvaine kämpfte gegen das Schwindelgefühl beim Anblick der Wogen vor ihrem Gesicht. Aber sie würde nicht aufgeben, sie würde nicht sterben, Rorik war nah.
„Othar, wenn du mich tötest, wird Rorik dich bis ans Ende der Welt verfolgen. Er …“
„Ich werde dich nicht töten“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Ich zwinge Rorik nur, langsamer zu fahren. Und ich hoffe, du ertrinkst, bevor er dich aus dem Wasser zieht.“
Sie spürte Othars Hände an ihren Hüften, dann einen harten Stoß, und im nächsten Augenblick flog sie durch die Luft.
„Er ist keine Viertelmeile vor uns, Rorik. Du hattest Recht, die Kampfansage hat ihn in die Flucht getrieben. Er steuert die Küste an, und damit sitzt er in der Falle.“
Rorik steuerte das Schiff in verbissener Ruhe durch die hohen Wellen. Die Entfernung zwischen den beiden Schiffen verringerte sich zusehends. Er konnte bereits Menschen ausmachen, die sich auf Othars Schiff bewegten. Doch plötzlich stieg der Feuerball der Sonne über die Hügelkuppe, so dass die grellen Strahlen ihn blendeten. Er konnte nicht erkennen, welche der Gestalten Yvaine war.
„Es bleibt ihm keine Zeit, ihr etwas anzutun. Er weiß, dass ich ihn einhole“, knurrte er und zwang sich, seinen Worten zu glauben.
„Sie ist am Leben“, brüllte Thorolf, der die Hand schützend an die Augen hielt. „Dort mittschiffs mit Othar. Was im Namen der … Er wirft sie über Bord!“
Rorik riss das Steuer mit einem gewaltigen Ruck herum. Das Langboot ging in gefährliche Schräglage, der Mast neigte sich gefährlich, wurde beinahe aus seiner Verankerung gerissen. Doch dann richtete der Seedrache sich wieder auf und rauschte los wie ein von der Leine gelassener Jagdhund.
Im gleichen Moment wurde Yvaine von einer hohen Dünungswelle verschluckt.
Rorik packte Thorolf an der Schulter und riss ihn herum. „Übernimm das Steuer“, befahl er, schnallte den Gürtel ab, warf das Schwert von sich und riss sich Tunika und Hemd vom Leib.
„Nein, warte!“ Thorolf warf dem Freund einen warnenden Blick zu. „Das Schiff ist schneller bei ihr. Yvaine kann schwimmen, hast du das vergessen? Sie schafft es. Warte, bis wir näher bei ihr sind.“
Rorik gab keine Antwort. Er stand sprungbereit, jeden Muskel angespannt, und suchte das Wasser ab. „Warum taucht sie nicht auf?“, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
„Sie kann schwimmen“, wiederholte Thorolf und flehte zu den Göttern, dass Yvaine die Kräfte nicht bereits verlassen hatten.
„Die schweren Röcke ziehen sie in die Tiefe, wenn sie die Spangen nicht öffnen kann. Da! “ Mit diesem Schrei stürzte Rorik sich mit einem kraftvollen, flachen Hechtsprung in die Fluten, der ihn weit vom Schiff entfernte.
Fluchend riss Thorolf das Steuer herum, als er begriff, warum Rorik nicht länger gewartet hatte. Yvaine war von einer Strömung erfasst worden, die sie direkt vor den Bug des Seedrachen trieb. Er musste die Fahrt verringern, den Kurs ändern, um sie nicht zu zerquetschen.
Rorik war ein kraftvoller Schwimmer, und Thorolf betete, dass er sie erreichte, bevor die Kräfte sie verließen.
Der Schock des kalten Wassers, das über ihr zusammenschlug, brachte Yvaine wieder zu Bewusstsein. Sie stieß sich kräftig nach
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