Historical Exclusiv 45
seine Wangenknochen, um seine Mundwinkel lagen tiefe Falten. „Du auch nicht.“
„Selbst im wachen Zustand verfolgten mich Albträume. Dir erging es vermutlich nicht anders.“ Er strich zart über die Schwellung an ihrer Wange. „Hat er dir sonst nichts angetan?“, fragte er sehr leise.
„Nein. Ich bin unversehrt, Rorik. Nur …“ Ihre Unterlippe bebte. Sie blinzelte heftig gegen die Tränen an, die ihr wieder in den Augen brannten. Diesmal waren es Tränen der Erleichterung, dass Rorik rechtzeitig zu ihrer Rettung gekommen war. „Ich bin nur müde.“
„Bald kannst du dich ausruhen, Liebes.“ Seine Stimme klang unendlich zärtlich, als er sie behutsam zwang, sich wieder zu setzen.
„Othar kommt nie wieder in deine Nähe“, schwor er, bevor er ans Ruder trat und seinen Männern Befehle zurief.
Als das Schiff wieder Fahrt aufnahm und kraftvoll die Wellen durchpflügte, trockneten Yvaines Tränen. „Wohin geht die Fahrt?“
„Wir verfolgen Othar.“
„Willst du ihn nach Norwegen bringen?“
„Nein.“
Als sie seine schroffe, einsilbige Antwort hörte, stand sie auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Nein, Rorik. Du willst ihn töten.“
„Othar hat seinen Tod besiegelt, als er dich verschleppte“, entgegnete er, ohne sie anzuschauen.
„Aber du begehst einen Brudermord. Das darfst du nicht tun.“
Plötzlich drehte Rorik sich jäh zu ihr herum. „Du bist um Othar besorgt?“
„Nein.“ Sie hielt seinem kalt glitzernden Blick stand. „Ich mache mir um dich Sorgen. Er ist dein Bruder. Und er … ist nicht bei Sinnen. Er hatte nicht die Absicht, mich zu töten. Er warf mich über Bord, um Zeit zu gewinnen.“
„Wenn das so ist“, warf Thorolf ein, der in der Nähe stand und den Küstenstreifen absuchte, „kommt er nicht weit. Er dürfte allerdings nicht unsere einzige Sorge sein, fürchte ich.“
Rorik hielt seinen durchdringenden Blick noch einen Moment auf Yvaine geheftet, bevor auch er wachsam den Küstenstreifen absuchte. „Offenbar ist Othar auf Soldaten gestoßen.“
„Ja. Das hätte uns noch gefehlt, mitten in einem Gefecht zu landen, das uns nichts angeht.“
Nun spähte auch Yvaine zur Küste. Am hellen Strand wimmelte es von Menschen. Sie biss sich auf die Unterlippe, um Rorik nicht anzuflehen, umzukehren. Sie hatte genug von Gewalt, Angst, Ungewissheit und Blutvergießen.
„Lass den roten Schild vom Bug nehmen und den weißen anbringen“, befahl Rorik.
„Was bedeutet das?“, fragte sie.
„Der weiße Schild bedeutet, dass wir verhandeln wollen. Wenn es dänische Soldaten sind, erkennen sie das Zeichen.“
„Und Engländer?“
„Ich hoffe, auch Engländer erkennen unsere friedliche Absicht.“
„Bei Gott, Othar ist es nicht wert …“ Sie hielt inne, als sie eine flatternde Bewegung oben in den Hügeln bemerkte. Dort standen tatsächlich Zelte. Viele Zelte. Und von der Spitze des größten Zeltes wehte …
Ungläubig starrte sie zu den Hügeln hinüber, bis sie Gewissheit hatte. „Das Banner von Wessex“, rief sie aufgeregt, bevor sie sich umdrehte und nach Roriks Arm fasste. „Sieh nur! Das Banner von Wessex. Das sind Edwards Truppen.“
Das Schiff glitt sanft auf eine Sandbank, kaum hatte sie den Ausruf getan.
„Was hältst du davon?“, fragte Thorolf mit leiser Stimme, als sie von Soldaten umringt wurden.
„Edward wird uns ein paar Fragen stellen.“ Rorik nahm Yvaine bei der Hand. „Die Männer bleiben an Bord. Wenn einer nach der Waffe greift, ziehe ich ihn zur Rechenschaft.“
„Als hätten wir auch nur die geringste Chance.“ Misstrauisch beäugte Thorolf die kleine Armee, die das Schiff einkreiste, und lächelte dünn. Sein Lächeln wurde nicht erwidert.
Yvaines Blick flog von den starren Mienen der Krieger zu Rorik, und ihre freudige Erregung verwandelte sich in Grauen. Er hatte wieder diese unerbittliche Zielstrebigkeit im Blick, mit der er der Welt zu verstehen gab, dass nichts und niemand ihn von seinem Vorhaben abbringen konnte. „Rorik, lass mich zuerst mit Edward sprechen. Er wird …“
„Nein.“ Er gab ihre Hand frei, sprang in den Sand und hob sie über den Bootsrand.
Ein Soldat näherte sich mit einem Schwert in der Hand. Er war hoch gewachsen, trug ein Lederwams und wollene Beinkleider. Sein Kopf war von einem Lederhelm bedeckt, unter dem braune Locken und ein bärtiges Gesicht sichtbar wurden. Sein Blick aus wachen blauen Augen musterte das Schiff, verharrte kurz auf dem weißen Schild am Bug und heftete sich
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