Historical Exclusiv 45
ein Holzblock, ein Drache …
Ein Drache?
Ihr Blick flog wieder zum Heck, wo etwas Goldenes aufblitzte. Kein Drache. Das Steuerruder in Form einer Seeschlange, in deren vergoldeten Augen sich das Sonnenlicht fing und dem geschnitzten Ungeheuer Leben einzuhauchen schien. Im Bann der kunstvollen Schnitzerei des Fabelwesens bemerkte Yvaine erst einen Moment später die Männerhand, deren kraftvolle Finger das glatte Holz umfingen.
Eine kühle Brise strich über ihre Haut, prickelte in ihrem Nacken. Ihr Blick wanderte wie aus eigener Kraft über einen muskulösen Unterarm, goldene Armringe und eine breite Schulter weiter nach oben.
Und dann war sie gefangen von einem Blick, der sie in seiner glitzernden Eindringlichkeit an einen Habicht auf Beutefang denken ließ. Die hellen, durchdringenden Augen aus ihren Fieberträumen.
3. KAPITEL
D ie Welt blieb stehen. Zeit, Gedanken, Bewegung, alles stand still. Über die gesamte Länge des Schiffes hinweg fühlte sie sich unter dem Blick ihres Entführers hilflos gefangen, als sei sie in Ketten gelegt. Als er schließlich den Blick wandte und etwas zu dem Mann neben ihm sagte, entwich die Luft hörbar aus ihren Lungen.
„Thorolf kommt auf uns zu“, sagte Anna leise. „Vor ihm braucht Ihr keine Angst zu haben, Lady. Er ist höflicher als die anderen.“
„Sie sind allesamt Barbaren“, murmelte Yvaine. „Jeder Einzelne.“
„Hm. War Euer Gatte besser?“
Bevor sie die spitze Frage beantworten konnte, stand ein blonder, bärtiger Wikinger vor ihr. Er streifte Anna mit einem Blick, dann streckte er Yvaine gebieterisch die Hand entgegen. „Kommt, Lady.“
Yvaine wich einen Schritt zurück. „Du hast mir nichts zu befehlen, Barbar.“
Thorolf seufzte, nahm sie bei der Hand und zog sie ohne weitere Umstände mit sich.
Vor Schreck stolperte Yvaine beinahe über ihre eigenen Füße. Als ihr klar wurde, wohin er sie brachte, fand sie ihre Stimme wieder. „Lass mich sofort los, du Grobian. Ich bin kein Sack mit Diebesbeute, den du deinem Anführer …“ Sie stockte, weil sie beinahe über einen Querbalken gestürzt wäre.
„Dämpft Eure Stimme, Lady.“ Thorolf warf ihr einen gereizten Blick über die Schulter zu. „Wollt Ihr vor den Männern ein Gezeter machen? Rorik will mit Euch reden.“
„Und das ist seine Art, mich darum zu bitten? Wer hat ihm Manieren beigebracht? Ein Schweinehirt?“
Mit einem leisen Fluch fuhr er zu ihr herum. „Soll Rorik das Schiff sich selbst überlassen und hinter Euch herrennen? Weiber! Nur Scherereien, von früh bis spät.“ Er stapfte weiter. „Passt auf den Kübel auf.“
Yvaine blinzelte verdutzt. Ein Wikinger, noch dazu ein wütender Wikinger, der eine Frau vor einem Hindernis warnte, ging über ihr Begriffsvermögen. Aber wahrscheinlich würde er sie kaltblütig töten, wenn sie sich von ihm losreißen und fliehen würde.
Und wo sollte sie sich verstecken? Etwa hinter den drei Männern, die unter dem Mast beim Würfelspiel hockten?
Als hätten die wilden Gesellen ihre Gedanken gehört, hoben sie die Köpfe und schienen sie mit ihren Blicken zu durchbohren. Schaudernd wandte Yvaine das Gesicht. Das Gelächter hinter ihrem Rücken erinnerte sie beängstigend an Ceawlins hämisches Lachen.
„Beachtet sie nicht“, sagte Thorolf und versetzte sie erneut mit seinem schiefen Lächeln in Erstaunen. „Vielleicht hätte Euch Rorik holen sollen, Lady. Andererseits kann nicht einmal er die Männer daran hindern, Euch anzusehen. Wie dem auch sei, die Gewässer sind tückisch, und er fürchtet, dass der Wind umschlägt. Er ist der beste Steuermann in ganz Norwegen, müsst Ihr wissen.“
Woher sollte sie das wissen? Sie wusste überhaupt nichts mehr. Die ganze Welt war verrückt geworden. Sie war völlig verwirrt und orientierungslos.
Und dann stand er nah vor ihr, ohne Helm, der Krieger aus ihren Träumen. Nicht der grobschlächtige hässliche Rüpel, den sie erwartet hatte, nicht der primitive Furcht einflößende Barbar, sondern ein Hüne, der nordischen Sagenwelt entstiegen, die sie als junges Mädchen so sehr gefesselt hatte.
Wo war das Bild des primitiven Barbaren geblieben? Er war hoch gewachsen und stark, wies nicht die edel geschnittenen Gesichtszüge auf, die sie den Helden aus den Sagen zugedacht hatte, auch nicht das gute Aussehen der Adeligen, die sie am Hofe ihres Cousins Edward kennen gelernt hatte. Seine Gesichtszüge waren markant und hart. Hohe Wangenknochen, der kühne Schwung einer edlen Nase, die kantig
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