Historical Exclusiv 45
eingerieben, Anna? Hier an der frischen Luft wird mir erst bewusst, wie unerträglich der Gestank im Zelt war. Für diese Wohltat nehme ich sogar die dreisten Blicke dieser Rohlinge in Kauf. Aber …“, sie drehte den Kopf nach hinten und schnupperte, „der Gestank scheint an mir zu haften.“
Anna lachte. „Das ist Hammelfett. Das Zeug riecht scheußlich, hat aber eine wunderbare Heilwirkung. Die Striemen und Blutergüsse sind kaum noch zu sehen.“
„Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast, Anna.“ Sie drückte dem Mädchen herzlich die Hand. „Ohne dich wäre es mir schlecht ergangen, fürchte ich. Ich wünschte nur, ich könnte mich erkenntlich zeigen …“
„Ich brauche keinen Lohn, Lady. Im Übrigen habe nicht nur ich Euch gepflegt. Rorik hat häufig nach Euch gesehen und …“, sie senkte die Stimme, „… er beobachtet Euch.“
Mit diesen Worten zerbarst der dünne Schutzschild ihrer Zuversicht in tausend Splitter wie die Gischt, die über den Schiffsbug sprühte. Starr hielt Yvaine den Blick auf das Meer gerichtet, ihre Finger krallten sich am Bootsrand fest. „Wo?“, hauchte sie.
„Er steht im Heck“, antwortete Anna besorgt. „Wollt Ihr Euch zurückziehen, Lady?“
„Zurückziehen?“, wiederholte Yvaine mit einem bitteren Laut. „Was nützt mir das? Lieber springe ich ins Wasser und schwimme an Land.“
„Das habt Ihr bereits versucht“, entgegnete Anne trocken. „Im Übrigen wäre Rorik bei Euch, bevor Eure Füße nass sind. Was er sich in den Kopf setzt, lässt er sich nicht nehmen, glaubt mir.“ Sie warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. „Ich habe nur wenig mit ihm gesprochen, aber seinen Freund Thorolf habe ich etwas besser kennen gelernt. Und wenn nur ein Teil der Geschichten wahr ist, die er mir erzählt hat …“
„Geschichten?“ Yvaine horchte auf. „Was für Geschichten?“
Annas Ton wurde beinahe andächtig. „Rorik wurde noch nie im Kampf besiegt. Stellt Euch vor, er hat einen riesigen Eisbären mit seinen bloßen Händen bezwungen, nur mit einem Messer bewaffnet. Deshalb hat er den Beinamen Bärentöter. Einen Fangzahn des Ungeheuers trägt er an einer Lederschnur um den Hals und …“
„Warte … warte!“ Yvaine hob die Hand und unterbrach Annas Redefluss. „Ein Eisbär?“ Sie runzelte die Stirn. „Dieser Thorolf hat dir eine Lügengeschichte aufgebunden. Ich wundere mich nur, dass du seiner Prahlerei glaubst. Ein Bär aus Eis? Ein solches Tier möchte ich gerne sehen.“
„Aber …“
„Nein, nein. Vertrau mir. Das ist eine Mär. Eine nordische Saga. Ich kenne sie alle.“ Und um nichts in der Welt hätte sie eingestanden, dass ihr eisige Schauer über den Rücken rieselten.
„Und was ist mit Thorolfs Berichten über Roriks siegreiche Kämpfe? Er hat mit eigenen Augen gesehen …“
„Ja, ja, große Heldentaten, das kann ich mir denken. Alle Männer prahlen mit ihren Heldentaten. Oder hast du je etwas anderes gehört?“
„Aber etwas Wahres muss daran sein“, entgegnete Anna unbeirrt. „Sonst würden wir nicht unbehelligt hier stehen, obwohl vierzig wilde Wikinger keine zehn Schritte von uns entfernt sind. Was, denkt Ihr, würde geschehen, wenn Rorik seine Männer nicht im Griff hätte?“
Auf diese Frage gab es nur eine Antwort. Die Barbaren, die ihr solche Angst einjagten, dass sie sich am liebsten in die Ritzen zwischen den Schiffsplanken verkrochen hätte, waren nur deshalb so zahm, weil ihr Anführer noch grausamer, noch härter, noch barbarischer war als seine Mannschaft.
Aber Yvaine sah sich gezwungen, ihm gegenüberzutreten. Der Gedanke ließ sie innerlich erbeben. Bevor sie einen weiteren Fluchtplan fassen konnte, musste sie mit ihm sprechen, um die Gefahren abzuschätzen. Sie musste versuchen, ihn zu überlisten.
Das war möglicherweise der richtige Ansatz. Mit diesem Gedanken suchte sie sich Mut zu machen. Er war ein Heide, ein Barbar. Wahrscheinlich konnte er nicht weiter denken als bis zur nächsten blutigen Schlacht. Wenn sie sich allerdings mit ihm auf geistigem Gebiet maß, mochte das Ergebnis zu ihren Gunsten ausfallen. Vielleicht konnte sie ihm vormachen, die Frauen seien so eingeschüchtert und furchtsam, dass er sie gefahrlos an Land übernachten lassen konnte. Dann galt es nur noch, an eine Waffe zu kommen …
Sie drehte sich um. Ihr Blick wanderte das Schiff entlang über Ruderbänke, Kisten, Körbe und Säcke mit Vorräten und Beutestücken. Nichts, was ihr nützen könnte. Nur Taue,
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