Historical Exclusiv 45
gegen den unerträglichen Druck, der sich in ihr aufbaute. Hatte sie diesen Verdacht nicht schon auf dem Schiff gehabt? War diese Erklärung nun nicht noch wahrscheinlicher geworden? Er hatte seine Heimat verloren, er brauchte Geld für einen Neuanfang. Das war der einzig logische Weg. Niemand würde Anstoß an seiner Entscheidung nehmen. Eine Lösegeldforderung war ein völlig normales Geschäft.
Sie konnte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt. Sie konnte ihn nicht danach fragen. Seine Bestätigung würde sie vernichten. Aber wenn sie nicht sprach, wenn sie sich nicht von den Krallen befreite, die sich tief in ihr Herz bohrten, würde sie schreiend zusammenbrechen oder sich auf ihn stürzen und ihn mit Fäusten bearbeiten. Oder schlimmer noch: Sie würde ihn anflehen, sie zu behalten.
„Hat Thorolf dir von Ingerd erzählt?“, presste sie mühsam hervor. „Und von Thorkill?“
„Ja.“ Er drehte sich zu ihr um. „Und auch von deinem Verdacht. Aber Gunhild und Othar konnten nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Ingerd ist wohl beim Wasserholen ausgerutscht und ertrunken.“
Yvaine schüttelte den Kopf. „Ingerd hat kein Wasser geholt. Sie war zu alt und zu schwach, um schwere Eimer den Hügel hinaufzuschleppen.“
„Dann ging sie am Ufer spazieren und ist ausgerutscht.“
Verständnislos sah Yvaine ihn an. „Ingerd war auch zu schwach, um spazieren zu gehen. Wieso will dir das nicht in den Kopf? Geh zu Thorkill und …“
„Verdammt! Wozu denn?“, brüllte er aufgebracht.
„Weil dein Vater ein ehrenhafter Mann war“, schrie sie zurück, und ihr Zorn überlagerte ihre Seelenpein. „Er hätte Ingerd diese Geschichte nicht erzählt, wenn das alles war, was er zu sagen hatte.“
„Ach ja? So gut kanntest du ihn also bereits nach einem einzigen Tag?“
„Jedenfalls gut genug, um den Rest der Geschichte wissen zu wollen. Wenn du Thorkill nicht aufsuchst, finde ich jemanden, der weiß, wo er lebt, und gehe selber zu ihm.“
„Rede keinen Unsinn“, entgegnete er ruhiger.
„Ist es nicht unsinnig und obendrein töricht, nicht wissen zu wollen, was Ingerd zugestoßen ist? Ich will es wissen, Rorik. Ich …“ Ihr brach die Stimme, es war nicht nur Ingerds Tod, der sie aufwühlte. Ihre Befürchtung, Rorik wolle sie nicht mehr bei sich haben, kämpfte mit Schmerz und Liebe und Zorn, weil er nicht einsehen wollte, wofür sie kämpfte.
„Yvaine …“ Er trat einen Schritt auf sie zu, zögerte und setzte sich in einigem Abstand auf den Bettrand. Als könne er sich an ihrer Nähe verbrennen, dachte sie wütend.
„Was ändert es daran, wenn Ingerd nicht die ganze Geschichte erzählt hat? Was sie sagte, ist schließlich die Wahrheit.“
„Es sollte dich aber interessieren, dass sie getötet wurde.“
„Glaubst du das wirklich?“
„Ja. Und ich will es beweisen, Rorik. Ich fühle mich so … schuldig. Hätte ich nur auf ihre Warnungen gehört, wäre sie noch am Leben.“
„Das darfst du nicht denken“, widersprach er bitter. „Du konntest doch nicht wissen, welche Unordnung mein Vater hinterlassen würde.“
Seine Bitterkeit gab ihr zu denken. Voller Mitgefühl nahm sie seine Hand. „Rorik, dein Vater hatte nicht die Absicht, dich um dein Erbe zu betrügen. Das weiß ich.“
Er schnellte auf die Füße. „Das wird sich herausstellen“, knurrte er an der Tür. „Wenn du immer noch entschlossen bist, Thorkill zu befragen, ruh dich aus. Es ist ein langer Weg. Du brauchst deinen Schlaf.“
„Vielen Dank für deinen Rat“, schrie sie empört. „Herr Gott, ich tu es für dich …“
„Yvaine.“ Verwundert sah er sie an, als ihre Augen sich mit Tränen füllten. Er berührte ihre Wange …
„Lass mich zufrieden!“, schrie sie, schlug seine Hand heftig weg, kroch auf die andere Seite des Bettes und wischte sich mit dem Handrücken die nasse Wange. „Ich brauche kein Mitleid . Nachdem wir mit Thorkill gesprochen haben, kannst du mich nach England bringen, dann bist du mich los. Und ich bin froh, dich los zu sein, das kannst du mir glauben! Und ich hoffe …“
„Gut. Ich habe verstanden!“, brüllte er. „Mehr brauchst du nicht zu sagen. Du tust ja gerade so, als würde ich über dich herfallen.“
Er riss die Tür auf, drehte sich um und griff nach seinem Gürtel. „Gestern Nacht hattest du nichts dagegen, dass ich dich anfasse“, stieß er zwischen den Zähnen hervor. „Aber das war, bevor du wusstest, dass ich der Sohn einer Sklavin bin.“
„Du Narr!“ Yvaine sprang
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