Historical Exclusiv 45
es gibt auch gottesfürchtige und redliche Priester. Das alles scheint mir jetzt so weit entfernt zu sein.“
Rorik runzelte die Stirn. „Hast du keine Angst um dein Seelenheil, Yvaine? Bei uns kannst du keine Messe besuchen, keine Beichte ablegen. In England betrachtet man dich als meine Geliebte, nicht als meine Ehefrau. Glaubst du, dein Gott vergibt dir eine Sünde, an der dich keine Schuld trifft?“
„Ganz schuldlos war ich nicht“, murmelte sie und fragte sich, warum er so gut über das Christentum Bescheid wusste.
„Sei unbesorgt“, murmelte er, bevor sie ihn danach fragen konnte. „Niemand in England muss von unserer Heirat erfahren, wenn du nicht davon sprichst.“ Er zog die Ruderblätter so kräftig durchs Wasser, dass der Bug des Bootes schräg aus dem Wasser ragte. „Nur Odin weiß, was die Priester mit dir anstellen würden. Möglicherweise würden sie dich für den Rest deines Lebens in ein Kloster sperren. Hel!“
„Hel oder Hölle?“, fragte sie verschmitzt und entlockte ihm ein trockenes Lachen.
Und plötzlich war alles wieder in Ordnung. Roriks Stirn war nicht länger düster umwölkt, er erzählte ihr andere Sagas, und die Spannung zwischen ihnen löste sich. Und als er einige Zeit später das Boot an einer vorspringenden Felsnase vertäute, an einer Stelle, wo sich ein kaum sichtbarer Pfad den Hang hinaufschlängelte, stellte Yvaine fest, dass die winzige Knospe der Hoffnung in ihrem Herzen sich wieder öffnete, zart und dennoch beharrlich.
„Bleib dicht hinter mir“, sagte er und half ihr aus dem Boot. Die flüchtige Berührung seiner Hand wärmte ihr das Herz.
Während des Aufstiegs hellte sich ihre Stimmung auf. Ihre vom langen Sitzen im Boot steif gewordenen Glieder lockerten sich, und der steinige Pfad bot eine willkommene Abwechslung. Rorik half ihr über schwierige Stellen, und Yvaine glaubte zu spüren, dass er immer öfter Gelegenheit suchte, ihr nahe zu sein.
Sie war so versunken in ihre Grübeleien, dass sie nicht bemerkte, als Rorik plötzlich stehen blieb, und sie gegen ihn stolperte. Er stützte sie, bis sie das Gleichgewicht wiederfand, hielt aber den Blick auf den Weg gerichtet, den sie gekommen waren.
„Was ist?“, fragte sie und warf einen unsicheren Blick über die Schulter. Nach Roriks Geschichten von Mythen und Monstern wäre sie nicht verwundert gewesen, einen Eisriesen zu sehen. Aber sie waren allein in der unberührten Einsamkeit der Bergwelt.
„Ich dachte, ich hätte etwas gehört“, sagte er leise, „ein Boot.“
„Thorkill?“
„Nein. Sein Boot liegt versteckt unter einem Gestrüpp.“ Er horchte noch einen Moment. „Es war wohl nichts. In den Bergen kann man Geräusche auch aus sehr weiter Entfernung hören.“
Bevor sie ihren Weg fortsetzten, suchte sein Blick spähend die Umgebung ab, als prüfe er jeden Zweig, jedes Blatt, und Yvaine lief ein Frösteln über den Rücken. Nur Thorolf und Anna wussten von Thorkills Existenz. Wenn aber jemand den nächtlichen Streit zwischen ihr und Rorik belauscht hätte? Sie hatten nicht gerade im Flüsterton miteinander gesprochen.
Schlimmer noch, wenn Gunhild so viel von Ingerds Warnungen wusste, dass sie Verdacht schöpfte? Sie war nahe genug gewesen, als Ingerd sie bemerkt hatte und verstummt war. Wäre es möglich, dass Gunhild sie ausspionieren ließ?
„Rorik …“
„Ja.“ Yvaine spürte, dass in ihm ähnliche Gedanken vorgingen. „Wir werden verfolgt. Rasch! Hier hinauf.“
Er nahm sie um die Mitte und hob sie mit einem kräftigen Schwung auf einen Felsvorsprung. Yvaine kroch über den Rand und stand mit klopfendem Herzen auf einem Felsplateau hoch über dem Fjord und hatte einen Schwindel erregenden Blick in die tiefe Schlucht, bevor Rorik sie vom Abgrund wegzerrte und hinter sich schob.
Im nächsten Moment sprang ein Mann auf das Plateau, bewaffnet mit Speer und Streitaxt. Die kalte Mordgier in seinen Augen ließ Yvaine das Blut in den Adern gefrieren. Wortlos zog er die Axt aus der Schlaufe an seinem Gürtel, legte den Speer an und ging breitbeinig in Kampfstellung.
Roriks Hand hatte beim Auftauchen des Fremden den Schwertgriff umspannt. Nun aber ließ er die Hand sinken und ging in Kampfstellung. „Bring dich in Sicherheit und leg dich flach auf den Felsen“, befahl er Yvaine, ohne den Blick von seinem Gegner zu wenden. Yvaine zwang sich zu gehorchen, wusste, dass er Bewegungsfreiheit zum Kämpfen brauchte. Wie aber wollte er einen Speer abwenden, ohne sein Schwert zu ziehen?
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