Historical Exclusiv 45
mit einer Schöpfkelle im Kessel über dem Feuer zu rühren, dem ein würziges Aroma entstieg. „Bist du mit dem Seedrachen zufrieden? Egil ließ mich wissen, dass du ein längeres Steuerruder angebracht hast.“
Yvaine lehnte sich gegen die Wand und hörte nur mit halbem Ohr zu, froh darüber, dass die Männer sie nicht in das Gespräch einbezogen. Auf diese Weise konnte sie ihren Gastgeber ungestört studieren. Thorkill war etwa in Egils Alter, allerdings bei guter Gesundheit. Ein stattlicher Mann mit schlohweißem Haar und einem dichten Bart im zerfurchten Gesicht. Seine hellblauen Augen lagen in einem Kranz feiner Lachfalten, und sie wunderte sich, dass dieser gutmütig wirkende Mann in seiner Jugend auf seinen Seefahrten mit Egil geplündert und gemordet hatte.
Doch all das lag in der Vergangenheit. Eingelullt vom warmen Feuer und dem wohlschmeckenden Eintopf, den er ihr in einer Holzschale gereicht hatte, saß Yvaine still und döste vor sich hin, bis Thorkill aufstand und den Deckel einer Truhe in einer Ecke öffnete. Er holte einen Gegenstand hervor, der in ein Stück geöltes Leder eingeschlagen war, und kehrte damit zu seinem Platz zurück.
„Das ist es, was du suchst, Rorik.“
Hellwach geworden, rückte Yvaine näher, als Rorik den Gegenstand auspackte.
„Aber das ist doch nur ein Stein“, rief sie enttäuscht.
„Ein Runenstein, Liebste“, korrigierte Rorik sie und drehte den flachen Stein, der etwa zwei Handbreit maß und an den Kanten abgerundet war. In den flachen Seiten waren seltsame Einritzungen, offenbar Schriftzeichen. Da Pergament im hohen Norden eine seltene Kostbarkeit war, wurden Ereignisse in der Regel in mündlicher Überlieferung von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Nur Gesetze und Begebenheiten von großer Bedeutung wurden in Stein gemeißelt.
„Kannst du das lesen?“, fragte sie gespannt.
Erneut drehte Rorik den Stein zwischen den Fingern und begann zu lesen. „‚Egil, Sohn von Eirik, Sohn von Rorik, Sohn von Einar, lag mit der Sklavin Alicia, die ihm einen Sohn gebar. Danach starb sie. Dieser erstgeborene Sohn Rorik wurde rechtmäßig anerkannt, um gleichberechtigt zu sein mit später geborenen Kindern seines Vaters. Dem Erstgeborenen steht der Besitz seines Vaters nach dessen Tod zu. Er überträgt seinen später geborenen Brüdern Anteile an diesem Besitz. Der Gesetzschreiber Gudrik hat diese Runen in Stein gemeißelt.‘“
Nachdem Rorik geendet hatte, entstand ein langes Schweigen. Bedächtig legte er den Stein neben sich und blickte gedankenverloren in die Flammen.
„Das also hat Egil der alten Ingerd anvertraut“, ergriff Yvaine schließlich das Wort. „Deshalb hat Gunhild sie daran gehindert, darüber zu berichten. Dieser Mann …“
„Ja“, Rorik legte seine Hand auf die ihre. „Er hat Ingerd getötet.“
„Eine hilflose, alte Frau“, fuhr sie zornig fort. „Ich bin froh, dass du ihn in die Tiefe gestürzt hast.“
Thorkill lachte. „Sie spricht wie eine echte Normannin. Aber deine Frau ist Engländerin, Rorik, wie deine Mutter!“
„Ist das von Bedeutung?“, fragte Yvaine. „Dieser Runenstein beweist, dass Rorik der rechtmäßige Erbe seines Vaters ist. Rorik, verstehst du nicht? Du musst Einervik nicht verlassen.“
Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu, wurde aber von Thorkill abgelenkt.
„Du willst fort, Rorik?“
„Othar hat den Bann über mich gesprochen. Nicht, dass mich das stören würde. Ich wollte ohnehin fort.“
„Dieser Nichtsnutz!“, schnaubte Thorkill verächtlich. „Ich hätte es wissen müssen, dass er Schwierigkeiten macht und seine Mutter Böses im Schilde führt. Damit hat Egil nicht gerechnet. Er kannte Gunhild noch gar nicht, als dieser Runenstein gemeißelt wurde, aber ihm lag alles daran, deine Rechte zu schützen, Rorik. Der Sohn einer Nebenfrau hat gewisse Rechte. Der Sohn einer Sklavin aber ist gleichfalls Sklave, wer immer sein Erzeuger war. Es war Egils Wunsch, dich als seinen rechtmäßigen Erben einzusetzen. Er bestand sogar auf einer feierlichen Adoption, ich selbst war Zeuge dieser Feier.“
„Davon weiß ich nichts“, sagte Rorik.
„Du kannst dich nur nicht daran erinnern. Das muss vor fünfundzwanzig Jahren gewesen sein, damals warst du etwa drei Jahre alt. Egil ließ einen Ochsen schlachten und aus der Haut seines rechten Vorderlaufes einen Stiefel anfertigen. Und wir alle stellten unseren Fuß hinein, einer nach dem anderen, auch du, Rorik.“
„Eine solche Feier war gewiss
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