HISTORICAL EXCLUSIV Band 22
damit sie ihn ansehen konnte, und entdeckte, dass sein Gesicht nur wenige Handbreit von ihrem entfernt war. Obwohl er wieder finster blickte, konnte Kathryn nicht umhin zu bemerken, wie schön seine grauen Augen waren, die von dichten schwarzen Wimpern umrahmt waren. Diese Erkenntnis verwirrte sie. Sie ließ den Blick zu seinem Mund gleiten.
„Wir reisen zum König, Lady Kathryn. Meint Ihr nicht, dass Ihr Sir Rupert in London sehen werdet?“ Gerharts Stimme klang schroff. Er mochte es nicht, von ihr so unverwandt angestarrt zu werden. Für eine Frau war sie zu offen, und ihre Augen – wenigstens das unverletzte – waren viel zu beunruhigend.
Kathryn schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. „Ich weiß nicht, wie ich ihn finden soll. Nach allem, was ich gehört habe, ist London riesengroß; außerdem ist es gut möglich, dass Rupert gerade jetzt auf dem Weg zu mir nach Somerton ist.“
Wenigstens war dies eine Erklärung für ihren Fluchtversuch letzte Nacht, obwohl es ihn unverständlicherweise ärgerte. Es erschien ihm ungerecht, dass Lady Kathryn für Rupert Aires Kopf und Kragen riskierte und sich Sorgen machte um einen Mann, dem einige der schönsten und zugleich treulosesten Frauen in England bedingungslos zu Willen waren.
Sollte Aires irgendwelche Verpflichtungen Kathryn Somers gegenüber haben, hatte er eine feine Art, dies zu zeigen. Wolf wusste, dass allen Männern aus König Heinrichs Garde bei ihrer Rückkehr aus Frankreich vor zwei Monaten Urlaub gegeben worden war. Offenbar hatte Aires es nicht für angebracht gehalten, nach Somerton zu reisen und seine Braut zu holen. Hätte er es getan, dann hätte es der König vermutlich nicht für nötig befunden, Wolf den ganzen Weg nach Norden zu schicken, um diesen Fratz zu holen.
„Niemand aus der königlichen Garde hat gerade Urlaub“, sagte er. Er war sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach, aber falls es Lady Kathryn dahingehend beruhigte, dass sie nicht mehr versuchen würde, nach Somerton zurückzulaufen, war es die kleine Lüge wert.
„Seid Ihr sicher?“
„Ziemlich sicher.“
„Das ist eine Erleichterung“, sagte sie. „Jetzt muss ich nur noch einen Weg finden, wie ich ihn nach unserer Ankunft in London ausfindig machen kann. Falls wir jemals London erreichen. Ihr habt mir immer noch nicht erklärt, warum wir nicht nach Süden reiten.“
„Wir reisen nicht direkt nach London.“
„Ach nein? Wohin bringt Ihr mich?“
Er war es nicht gewohnt, von jemandem ausgefragt zu werden, insbesondere nicht von einem zerlumpten, unverschämten, unbedeutenden Mädchen. Er stieß ein verärgertes Brummen aus und antwortete Kathryn kurz angebunden: „Windermere Castle.“
„Windermere! Aber das ist ja in Cumberland! Meilenweit von unserem eigentlichen Weg entfernt!“
„Habt Dank, Mistress, aber mit der Lage von Windermere bin ich wohl vertraut …“
„Aber das wird doch eine Ewigkeit dauern. Und Rupert …“
„Ich beginne, die Vorzüge von Baron Somers’ Erziehungsmethoden zu begreifen.“
„Warum seid Ihr nicht zuerst nach Cumberland gereist und habt mich danach geholt?“ Kathryns Wut stand der von Wolf in nichts nach.
„Dann hätte ich meine Befehle missachtet.“
„Warum?“
„Der König war sehr genau in seinen Anweisungen. Er wollte Euch so schnell wie möglich in meiner Obhut wissen.“
„Aber warum nur?“
„Schlaft jetzt.“ Kathryn war mittlerweile schon mit seinem barschen Tonfall und seiner düsteren Miene vertraut und wusste, dass ihr Gespräch jetzt zu Ende war.
„Aber, Sir Gerhart …“, hob sie trotzdem an.
Als sich aber sein Blick weiter verfinsterte, erkannte Kathryn, dass es nicht mehr der Zeitpunkt war, Fragen zu stellen. Sie war nicht im Mindesten begierig herauszufinden, ob Wolf wirklich dachte, dass Baron Somers recht daran tat, sie zu schlagen.
Sie waren noch langsamer vorangekommen, als er gedacht hatte. Die Gruppe hatte Widermere Castle immer noch nicht erreicht, und bei dem anhaltenden Regen wurde es rasch dunkel. Da es unverkennbar war, dass die alte Frau sich nicht mehr viel länger im Sattel würde halten können, schickte Wolf ein paar Männer voraus, um einen geschützten Platz für das Nachtlager zu finden. Die Kundschafter ritten schnell aus dem regenverhangenen Tal über einen Hügel und außer Sichtweite.
Es war schon vollkommen dunkel, als Wolf und seine Gruppe den Vortrupp einholten, der das Wirtshaus „Zur krummen Axt“ am Ende eines kleinen Dorfes gefunden
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