HISTORICAL EXCLUSIV Band 22
flehte sie.
Wolf sah, wie sie das dreckige Kind mit ihrem Körper schützte und sich nicht im Mindesten darum scherte, dass der schlammverschmierte Knabe auch ihre eigene Kleidung beschmutzte. Selbst die Wachen schienen ihr keine Angst zu machen. Einige aus der Gesellschaft des Earls hatten sie eingeholt und verfolgten den Zwischenfall nun mit gespanntem Interesse.
„Mylord, erlaubt Ihr, da ich das eigentliche Opfer bin, dass auch ich den kleinen Übeltäter bestrafe?“
„Den kleinen Übeltäter? Ihr nennt ihn bloß einen ‚kleinen Übeltäter‘?“, rief Philip höhnisch. „Ich sage, er ist eine Bedrohung und sollte …“
„Ich bitte Euch, Mylord …“, sagte sie in einem sanften Ton, der im krassen Gegensatz stand zu der tiefen Abscheu, die sie in diesem Augenblick für den Earl empfand. Das böse Funkeln in seinen Augen rief ihr den Ausdruck ins Gedächtnis zurück, den Baron Somers immer gehabt hatte, kurz bevor er über sie hergefallen war. Bei dieser Erinnerung pochte ihr Herz bis zum Hals. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um für den Jungen einzutreten. „Lasst mich über das weitere Schicksal des Knaben entscheiden.“
„Warum nicht, Mylord?“, sagte jemand aus der Gesellschaft des Earls.
„Ja, wie lustig. Lasst Lady Kathryn die Strafe festsetzen.“
Philip gab seinen Wachen Zeichen, sich zu entfernen.
„Woran habt Ihr gedacht?“, fragte der Earl, sehr darum bemüht, sich den Anschein zu geben, dass diese Wendung der Geschehnisse ihm äußerst willkommen sei. Doch seine Nasenflügel bebten, und seine Lippe zuckte, sodass Kathryn sich nicht von seinem beherrschten Tonfall täuschen ließ. Er war ein durch und durch hassenswerter Mann.
Wolf beobachtete, wie Kathryn den Jungen zu sich umdrehte. Er konnte sehen, dass sie ihn mit einem freundlichen Blick beruhigen wollte, gleichzeitig aber wegen des Earls unnachgiebig erscheinen musste.
„Da dieser Knabe nichts anderes zu tun hat, als nichtsahnende Damen zu belästigen“, sagte sie streng, „lasst ihn mir als Diener folgen. Er soll meine Einkäufe tragen, Botendienste für mich erledigen und mir alle meine kleinen, launischen Wünsche erfüllen.“ Ein zustimmendes Geraune ging durch die Gruppe. Nur wenige dachten, dass das Kind es verdient hätte, für sein Vergehen gepfählt zu werden. „Dies sollte eine mehr als ausreichende Bestrafung für einen Jungen sein, bei dem ich sicher bin, dass er an einem solch schönen Tag viel lieber spielen als arbeiten würde.“
Wolfram glaubte beinahe sehen zu können, wie Kathryn den Atem anhielt, während sie auf die Entscheidung des Earls wartete. Irgendetwas in seiner Brust krampfte sich zusammen, als er ihre stille Qual erkannte. Wäre er ihr näher gewesen, hätte er sich beherrschen müssen, sie nicht zu küssen für ihren Gerechtigkeitssinn und ihr Bemühen, den Kleinen, dessen einziges Vergehen es war, ein sorgloses Kind zu sein, vor einer solch grausamen Strafe zu bewahren.
„So sei es! Du hast die Lady gehört“, verkündete Philip abschließend. „Hör auf zu plärren, Bursche, und mach dich an die Arbeit!“
„Ich danke Euch, Mylord“, sagte Kathryn aufatmend. Sie drückte die Schulter des Knaben nahezu unmerklich, ließ ihn dann los und fragte nach seinem Namen.
„Alfie, Mylady.“ Seine Stimme war sehr leise. „Alfie Juvet.“
„Sehr schön, Alfie. Deine erste Aufgabe wird sein, mir beim Abkratzen dieses Schlamms behilflich zu sein. Komm, bring mich zu deiner Mutter. Entschuldigt mich, Mylord“, sagte sie zu Philip. „Ich werde bald wieder bei Euch sein.“ Der Junge folgte Kathryn, als sie die Gruppe verließ. „Wohnst du in der Nähe?“
„Ja, Mylady“, antwortete er und übernahm die Führung. „Nur diese Straße entlang.“
„Ist deine Mutter zu Hause?“
„Das … das weiß ich nicht genau, wegen des Jahrmarktes und allem …“
Sie glaubte, dass er wieder anfangen würde zu weinen, und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. Er hatte seine Kappe im Schlamm verloren und warf den Kopf in den Nacken, um seine langen, nassen Haare aus dem Gesicht zu bekommen.
„Schon gut, Alfie. Wir werden das schon schaffen.“ Sie blickte kurz über die Schulter, um sicherzugehen, dass der Earl oder einer aus seiner Gruppe ihnen nicht folgte, und war überrascht, Wolf zu sehen. Sie hatte den großen, dunklen Ritter nicht hier vermutet. Außerdem sah sie ihn nicht sonderlich gerne. Seine bloße Anwesenheit zwang sie dazu, über die rätselhaften Worte
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