HISTORICAL EXCLUSIV Band 22
und ab und dachte über die Geschehnisse der letzten Nacht nach.
Unglücklicherweise war ihr vieles am Besuch der Alten vergangene Nacht unklar. Sie hatte gesagt, sie sei Agatha, so viel hatte Kathryn verstanden. Clarence war der alte Earl, und Agatha behauptete, seine Frau gewesen zu sein, die Countess also. Wenn das der Fall war, warum schlich diese alte Dame dann nächtens herum, erschien aus dem Nichts, löste sich dann wieder in Luft auf und sprach wie eine Wahnsinnige in Rätseln? Welcher Earl, der auf sich hielt, würde seiner Mutter erlauben, in groben Lumpen herumzulaufen und die Gäste zu belästigen?
Kathryn öffnete die Fensterläden und sah, dass es erst kurz vor dem Morgengrauen war. Es sah aus wie ein angenehmer Frühlingstag, und irgendwann in der Nacht hatte es zu regnen aufgehört. Der Himmel war zwar immer noch bedeckt, aber der Dunst ließ die Baumstämme noch dunkler und die Blätter in noch tieferem Grün erscheinen. Sogar die Wiesen waren farbenfroher, als Kathryn sie in Erinnerung hatte. Es war eine schöne Gegend mit ordentlich gezogenen Ackerfurchen an den Hügeln und einer ausreichend großen Stadt in einiger Entfernung.
Sie goss etwas Wasser in die Schüssel und wollte gerade damit beginnen, sich zu waschen, als sie eine kleine graue Maus erblickte, die über den Boden huschte und hinter einem großen Wandteppich verschwand. Kathryn hatte ihm vorher nicht viel Beachtung geschenkt. Da der Stoff im Laufe der Jahre nachgedunkelt war, waren Einzelheiten nicht zu erkennen.
Verwundert über das Mauseloch und getrieben von dem Wunsch, es zu verschließen, ging Kathryn dorthin und zog den Wandteppich etwas zur Seite. Sie fand weit mehr als nur einen kleinen Spalt. Der Gobelin verdeckte nämlich eine unechte Steinwand, in der sich eine Tür verbarg, die in versteckten Angeln hing. Ein kleines rundes Loch, kaum groß genug für zwei Finger, war in den Stein gehauen. Als Kathryn die Finger hineinsteckte, sprang der Riegel lautlos auf, und die schwere Tür öffnete sich mit einem Schwung nach innen.
Da es zu dunkel war, um in den feuchten, moderig riechenden Durchgang sehen zu können, zündete Kathryn eine Kerze an, warf sich eine Decke über und schritt durch die offene Tür. Sie entdeckte, dass der Korridor sehr eng war. Als Kathryn schon glaubte, dass dieser Flur niemals enden würde, kam sie zu einer Steintür, ähnlich derjenigen in ihrer eigenen Kammer. Sie betätigte den Riegel und fand sich hinter einem großen Wandteppich wieder. Indem sie vorsichtig hinter ihm hervorlugte, bemüht, keinen Laut von sich zu geben, konnte sie das Schlafgemach einsehen, das Lady Agatha gehören musste.
Die alte Frau lag laut schnarchend auf einem Bett, das genauso schwer behangen war wie das in Kathryns Kemenate, in dem Bridget schlief. Die Kerzenflamme warf lange, flackernde Schatten auf Wände und Boden des sonst dunklen Raumes. Während Kathryn weiter in das Gemach hineinging, überlegte sie, ob es vernünftig war, sich in das Zimmer einer Irren zu schleichen.
Bevor sie allerdings umkehren konnte, öffneten sich Agathas dunkle Augen, und ihr Blick heftete sich auf Kathryn. „Soso.“
„Nun, ich … ich habe mich nur gefragt, wie Ihr in meinen Raum gekommen seid …“, sagte Kathryn verlegen. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, doch auch die alte Frau war ja letzte Nacht in ihr Gemach eingedrungen.
„Ich habe auf Euch gewartet.“
„Auf mich?“
Agatha setzte sich im Bett auf und lächelte ein Lächeln, das mehr rosafarbenes Zahnfleisch als Zähne zeigte. „Selbstverständlich auf Euch.“
Sie schwang die Beine seitlich aus dem Bett und ließ sich auf den Boden gleiten. Sie nickte und humpelte zum Fenster hinüber. Indem sie den Laden öffnete und in den Hof hinuntersah, vergewisserte sie sich, dass noch niemand auf war. Während Kathryn sie nur sprachlos beobachtete, ging die Alte durch den Raum zu einem kleinen hölzernen Schemel und trug ihn zum Fenster. Sie drehte sich zu Kathryn um, blinzelte ihr zu, stieg auf den Schemel, streckte den Arm aus dem Fenster und mühte sich, einen kleinen Steinbrocken aus der Außenwand zu lösen.
„Ich schaffe es nicht. Ihr müsst ihn herausbekommen.“
„Wen?“
„Den Stein!“, rief sie ungeduldig. „Den Stein! Den er braucht, um … ach! Kommt! So müsst Ihr es machen.“ Die alte Frau brachte Kathryn dazu, sich auf den Schemel zu stellen, und bedeutete ihr, aus dem Fenster zu greifen. „Zieht und zerrt vorsichtig. Ihr werdet die Belohnung
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