HISTORICAL EXCLUSIV Band 22
Leute senkten die Blicke und hielten ihre Zungen im Zaum. Sobald der Earl jedoch vorbeigeritten war, steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten hinter vorgehaltener Hand.
Auch Wolf spürte die Feindseligkeit der Menschen. Er wusste, wenn es ihm endlich gelungen war, Philip Titel und Besitz zu entreißen, war es noch eine schwierige Aufgabe, den Schaden der letzten zwanzig Jahre wiedergutzumachen. Er kannte Philip gut genug, um zu wissen, dass dieser bestimmt schwerwiegendes Unrecht begangen hatte.
Der Earl half Kathryn beim Absteigen. Wolf beobachtete, wie die beiden auf den nächstgelegenen Stand zugingen, wo ein Kaufmann hervorragend gefertigte Ledergürtel und Geldbeutel feilbot. Wolf hatte seit letzter Nacht nicht mehr mit Kathryn gesprochen und musste zugeben, dass er ihr lästiges Geplapper vermisste. Ihr Haupt war auch heute wieder sittsam bedeckt, und sie trug einen langen Umhang, der ihr weinfarbenes Gewand mit den langen, fließenden Ärmeln darunter nahezu verbarg. Obwohl ihre Kleidung ihre weiblichen Formen nur andeutungsweise erkennen ließ, war Wolf eines klar geworden: Lady Kathryn Somers war kein Kind mehr, und ihr Mangel an höfischer Lebensart verstärkte nur ihren Zauber.
Der Drang, sie letzte Nacht zu küssen, war sehr stark gewesen, und er musste zugeben, dass Kathryn noch unwiderstehlicher war als die verführerische blonde Frau, die er am See von Somerton begehrt hatte. Allein der Gedanke, Kathryn wieder so halten zu können, wie er es am Tag zuvor in seinem Gemach getan hatte, versetzte ihm einen jähen Stich. Er ärgerte sich über sich selbst. Sie war bloß irgendeine Frau. Und sie gehörte zu Rupert Aires. Seine, Wolfs, Aufgabe bestand darin, sie nach London zu bringen. Weiter nichts.
Zu seiner großen Genugtuung schien Kathryn nicht sehr erfreut zu sein, die Gesellschaft des Earls aufgezwungen zu bekommen. Obwohl sie Philip oft stehen ließ, um sich mit den übrigen Edelleuten und Damen zu unterhalten, fand er immer wieder einen Vorwand, ihren Arm zu ergreifen und sie von den anderen wegzuziehen.
„Meine teure Lady Kathryn“, sagte Lord Colston, „kommt hier entlang. Ich muss Euch in dieser Straße einen Laden zeigen.“
Während der Earl und Kathryn die schlammbedeckte Gasse entlanggingen, kamen ein paar kleine Jungen gerannt, die einen runden Stein mit den Füßen hin und her schossen und versuchten, die jeweils anderen davon abzuhalten, an den Stein zu gelangen. Das Spiel wurde immer wilder, und einer der Knaben stürzte. Er fiel in eine riesige Pfütze und bespritzte Kathryn ungewollt mit Schlamm.
Philip war sehr erzürnt. Wolf sah, wie der Earl auf den Jungen zustürzte, ihn am Ohr packte und ihn so lange mit unbarmherzigem Griff festhielt, bis einer seiner Leute, ein bösartig aussehender Bursche namens Ramsey, kam und den Knaben in Gewahrsam nahm. Der Kleine, der höchstens zehn Jahre alt sein mochte, fing an zu weinen.
„B…Bitte, Euer Lordschaft“, heulte er, „es tut mir leid. Ich … ich wollte wirklich nicht …“
„Du ungezogener Bengel! Hast du keinen Verstand? Ich sollte dich und die erbärmlichen, verlausten Bettler, die dich in die Welt gesetzt haben, aufhängen lassen …“
Wolf ärgerte Philips übertriebene Reaktion auf die angebliche Beleidigung. Es stimmte, eine gehörige Menge Schlamm war auf Kathryns Umhang geschwappt, aber Philip schlug den Jungen ja geradezu bewusstlos. Diese Bestrafung war sinnlos und würde sicherlich nur Unmut in der Stadtbevölkerung hervorrufen. Gerede über Vorfälle wie diesen verbreitete sich stets wie ein Lauffeuer.
„Er soll bestraft werden! Sorgt dafür, dass er gepfählt wird!“, rief Philip zwei weiteren finsteren Helfershelfern zu, die auf den Knaben zukamen.
„Was könntest du tun?“, fragte Nicholas, der Wolfs Ärger bemerkt hatte.
„Nichts, verdammt. Gar nichts.“ Wolf blieb stehen und ballte die Hände zu Fäusten.
„Wenn du eingreifst, wird Philip es dir übel nehmen, und König Heinrich …“
„Als ob ich das, verdammt noch mal, nicht selber wüsste, Nicholas!“ Trotzdem musste er Philip irgendwie davon abhalten, das Kind zum Krüppel zu machen. Dem Jungen würde sicher das Ohr an einen Pfosten genagelt oder Fuß und Hand gepfählt werden, wenn Wolf nicht bald handelte. Er musste …
„Gnade!“ Kathryn schritt selbst ein. Sie legte einen Arm von hinten um Schulter und Brust des Knaben und verhinderte so, dass die Männer ihn fortbrachten. „Bitte, Mylord! Gebietet ihnen Einhalt!“,
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