Historical Exklusiv Band 06
Baumwollhose hätte sie aussehen müssen wie ein Stück Treibgut, das an Land gespült worden war, aber das tat sie nicht. Sie strahlte eine Würde aus, die an sein Herz rührte. Und sie straffte die Schultern auf eine Weise, die er inzwischen nur zu gut kennen gelernt hatte, als sie jetzt den Kopf hob.
"Wir werden sehen, Captain."
"Das werden wir in der Tat."
Er trat näher, so nahe, dass sie ihm einen warnenden Blick zuwarf. Befriedigung erfasste ihn, zusammen mit etwas anderem, über das er in diesem Augenblick nicht weiter nachdenken wollte. Auf eine etwas unbeholfene Art hatte er Sarah von ihrem Kummer abgelenkt. Die Frau hier vor ihm war bereit, mit ihm zu streiten. Sie schien sogar darauf zu warten, als suchte sie nach einem Ventil für die Gefühle, die sie tief in sich verschlossen hatte. Diese Möglichkeit zumindest konnte er ihr bieten.
"Wir setzen alle Segel und begeben uns auf dem schnellsten Weg zurück nach Macao", erklärte er ohne Umschweife. "Wenn der Kaiser erfährt, was in Dong Lo geschehen ist, wird man einen so hohen Preis auf meinen Kopf und alle meine Männer aussetzen, dass jeder Hafenbeamte in China hinter uns her sein wird."
James vermutete, dass nicht nur die Chinesen über den Zwischenfall in Dong Lo außer sich sein würden. In seinem Zorn könnte der Kaiser damit drohen, alle Barbaren aus seinem Himmlischen Reich zu verstoßen. Die britische East India Company würde selbstverständlich mit allen Mitteln zu verhindern suchen, dass so etwas geschah, und dazu könnte es durchaus gehören, daran zweifelte James nicht einen Augenblick, den Übeltäter an die chinesischen Behörden auszuliefern.
"Unsere einzige Hoffnung besteht darin, nach Macao hineinund auch wieder hinauszuschlüpfen, ehe die Nachricht über die Ereignisse in Dong Lo die Behörden dort erreicht hat."
"Du musst weder hineinnoch hinausschlüpfen", widersprach Sarah. "Du kannst mich mit Wang Er zusammen in Hongkong absetzen. Wir werden mit einer Dschunke über die Bucht nach Macao fahren. Dann könntest du entkommen, ohne dass jemand erfährt, dass ich bei dir war oder dass mein Vater dir eine solche Bürde auferlegt hat."
"Verdammt, aber ich weiß es!"
Sie blinzelte bei seiner scharfen Erwiderung, doch sie gab nicht nach. "Es tut mir Leid, wenn ich dich beleidigt habe, ich muss indes ehrlich zu dir sein. Es würde Abigails Aussichten auf eine respektable Heirat zerstören, wenn sie England erreicht unter dem Schutz eines … eines …"
"Eines Schurken?" ergänzte er. "Eines Schwerenöters, der unschuldige Mädchen verführt und die Gemahlinnen anderer Männer?"
"Da du es selbst so offen aussprichst – richtig, das meine ich damit."
James hakte die Daumen in seinen Gürtel. Wenn Miss Sarah zum offenen Angriff überging, nun, da wollte er nicht zurückstehen.
"Und wenn Abigail unter dem Schutz eines Ehemannes in England ankäme?"
"Das wäre schön und gut, wenn sie verheiratet wäre. Sie hat aber keinen Ehemann."
"Sie könnte den Viscount Straithe heiraten."
"Wie bitte?"
James musste lächeln über ihre unverhohlene Überraschung. "Du hast doch gewiss nicht vergessen, dass dein Vater mir die Hand seiner Tochter als Belohnung für meine Bemühungen anbot? Er hat allerdings nicht gesagt, welcher Tochter."
Sarah erbleichte zuerst, und dann wurde sie hochrot. "Mach dich nicht lächerlich!" fuhr sie ihn an. "Du wünschst dir Abigail oder mich genauso wenig zur Frau, wie eine von uns dich zum Manne haben möchte."
Sie wirkte so steif, prüde und missbilligend, mit zusammengepressten Lippen und abweisendem Blick, dass James' Lächeln spöttisch wurde.
"Nein, das will ich nicht. Aber dein Vater hat uns keine andere Möglichkeit gelassen. Ich kann mein Versprechen, deine Schwester und dich sicher nach England zu bringen, nicht halten, wenn ich dabei euren Ruf zerstöre. Die einzige Lösung besteht darin, dass eine von euch – wie nannte der gute Reverend es doch gleich noch? – mich errettet, so dass ich meinen Platz in der guten Gesellschaft wieder einnehmen und euch den Schutz meines Namens anbieten kann."
James wollte nicht errettet werden. Und er wollte auch nicht den guten Ruf von Sarah oder ihrer Schwester zerstören. Aber er hatte nichts dagegen, wenn die ältere Miss Abernathy eine Weile über seinen kühnen Vorschlag nachdenken musste. Getrieben von ihrem abweisenden Blick ebenso wie von der Boshaftigkeit, die ihn schon mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte, bohrte er den Dorn noch ein wenig
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