Historical Exklusiv Band 06
noch die Zeit nahm, auf seinen jüngsten Sohn zu achten und dessen Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen. Sarah wusste, dass Charlie eigentlich auf eine Schule gehen sollte, zusammen mit anderen Jungen seines Alters, wo seine Energie und sein Wagemut auf Gleichgesinnte treffen würden.
Sie seufzte und fragte sich wie schon so oft, woher sie das Geld nehmen sollte, um Charlie nach Hause, zurück nach England, zu schicken, damit er dort zusammen mit seinen Brüdern die "Barrowgate School for Young Gentlemen" besuchen könnte. Er hätte letztes Jahr schon dorthin gehen sollen, doch das Erbe ihrer Mutter hatte kaum für die anderen beiden Jungen ausgereicht. Sie verfügten nicht einmal über genügend finanzielle Mittel, um Abigail mit einer angemessenen Aussteuer zu versehen. Die süße, reizende Abigail würde kaum eine passende Mitgift bekommen.
Sarah warf ihrer Schwester einen Seitenblick zu und sagte sich, auch dies nicht zum ersten Mal, dass allein das außergewöhnlich schöne Gesicht und das freundliche Wesen ihrer Schwester als Mitgift für jeden Ehemann angemessen sein sollten. Doch sie wusste genug von der Welt und kannte auch die Menschen ausreichend gut, um zu wissen, dass Reichtum sich immer zu Reichtum gesellte und junge Missionarstöchter ohne Mitgift zumeist bettelarme Geistliche heirateten. Bisher hatte Abigail nicht das geringste Interesse für irgendeinen der enthusiastischen jungen Männer gezeigt, die sich ihr hingerissen zu Füßen warfen, wann immer sie einen Raum betrat. Sarah hegte daher noch immer die Hoffnung, dass sich ein etwas reiferer Bewerber finden würde – einer, der über ausreichend Mittel verfügte, für die zarte Abigail zu sorgen – und darüber hinaus vielleicht sogar noch für Charlies Ausbildung.
Seufzend zwang sich Sarah, nicht mehr an die familiären Sorgen um ihre Geschwister zu denken, für die sie vor langer Zeit die Verantwortung übernommen hatte. Gott, der Herr, würde es schon richten und für sie sorgen, das hatte jedenfalls der Vater ihnen immer versprochen. Im Augenblick jedoch zählte hauptsächlich, dass Gott zumindest für ihren Vater sorgte!
Sie nahm einen hohen spitzen Strohhut mit breitem Rand auf und versuchte, ihr widerspenstiges Haar darunter zu stopfen. Abigail eilte rasch an ihre Seite.
"Lass mich dir helfen."
Die Jüngere umfasste mit sanften Händen die rötlich schimmernde Mähne und hielt sie hoch, während Sarah den Hut befestigte. Charlies heiteres Lachen erfüllte den Raum.
"Du siehst wirklich sehr chin-chin aus, Sarah."
Sie brachte es nicht über sich, ihn für seine Ausdrucksweise zu schelten. Irgendein früherer Kaiser hatte entschieden, dass unter Androhung der Todesstrafe kein Chinese, mit Ausnahme zugelassener Dolmetscher, eine barbarische Sprache erlernen dürfte. Der Kaiser hatte dieses Dekret erlassen, um die Kontakte zwischen Chinesen und Ausländern zu kontrollieren – und er war damit kläglich gescheitert. Die Folge dieses Erlasses war jedoch, dass jeder Ausländer, der sich in diesem Land ohne Dolmetscher verständigen wollte, nun gezwungen war, dieses in Pidgin zu tun, einer nahezu unerträglichen Mischung aus Englisch und Chinesisch, und jeder, der dieses Kauderwelsch sprach, klang in höchstem Maße lächerlich. In ihrer Situation jedoch fand Sarah Pidgin ausgesprochen passend. Sie sah tatsächlich sehr "chin-chin" aus.
Sie blickte an sich hinab und war sehr zufrieden mit ihrer Verkleidung. Das blaue Baumwollkleid mit dem Stehkragen verhüllte sie vom Hals bis zu den Knien. Unter dem weiten Überkleid trug sie die weiten Hosen, die bei den Chinesen sowohl Männern als auch Frauen als Kleidungsstück dienten. Mit dem breitrandigen Hut, der ihr rotes Haar und ihr Gesicht verbarg, hoffte sie, sich unbemerkt in den Straßen von Macao bewegen zu können.
"Ich wage zu behaupten, dass mich in diesem Aufzug nicht einmal Lady Blair erkennen würde", erklärte Sarah sehr zufrieden.
"Lady Blair!" Abigail erbleichte und legte erschrocken die Hände an die Wangen. "O Sarah, glaubst du wirklich, es besteht die Gefahr, dass du ihr begegnest? Wenn das der Fall ist, dann darfst du nicht so ausgehen, unter keinen Umständen darfst du dann so ausgehen. Wenn sie dich sieht oder erfährt, wohin du unterwegs bist, dann wird sie die Einladungen zu ihrem venezianischen Frühstück zurückziehen und die schlimmsten Gerüchte über dich verbreiten."
Das wäre nicht das erste Mal, dachte Sarah bei sich. Die Frau des obersten Agenten der British
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