Historical Exklusiv Band 06
Langsamkeit führte sie dann die Hand ihres Vaters an die Lippen und küsste sie zärtlich. Dann schloss sie die Augen und begann, sich vor und zurück zu wiegen.
Ohne lange darüber nachzudenken, erwachte in James der Wunsch, sie in seine Arme zu ziehen. Doch dann hörte er ihre leise gemurmelten Worte, und er hielt inne, noch ehe er sie berührte.
Sie benötigte seinen Trost nicht, daher überließ er sie ihrem Vater und ihren Gebeten.
Es dauerte eine Weile, ehe das vertraute Ächzen und Knarren des Schiffes, das unter vollen Segeln fuhr, den Schleier von Sarahs Schmerz durchdrang. Sie fühlte, wie das Deck sich unter ihren Füßen bewegte, hörte das Schlagen der Segel, wenn der Wind sich in ihnen fing. Einen schrecklichen Augenblick lang wurde sie von Entsetzen gepackt. Sie fühlte sich, als wäre sie ein Schiff wie die Phoenix, das ohne Anker einsam über das weite Meer fuhr.
Sie hob den Kopf, und ihr Herz begann vor Angst immer schneller zu schlagen. Wie sollte sie für Abigail und die Jungen sorgen? Wo würde sie ihnen ein neues Zuhause einrichten können? Und wie, lieber Gott, sollte sie das schaffen?
Ihr Blick fiel auf den Kapitän, der breitbeinig auf den Decksplanken stand. Der praktische Sinn, der Sarah so eigen war, gewann die Oberhand. Sie verwarf den Gedanken sofort, dass Straithe auf irgendeine Weise die Verantwortung für ihre Familie übernehmen könnte. Sie allein hatte diese Last zu tragen, nur sie.
Und sie würde es schaffen.
So, wie sie es bisher immer geschafft hatte.
Sanft kreuzte sie die Arme ihres Vaters über seiner Brust und verabschiedete sich leise zum letzten Mal von ihm. Mit John Hardestys Hilfe bereitete sie ihn für das Begräbnis vor, wie sie schon ihre Mutter und viele der Schutzbefohlenen ihres Vaters dafür vorbereitet hatte.
Dann half sie mit zitternden Fingern, den Segeltuchsack für ihn zu nähen.
Bei Tagesanbruch übergab der Kapitän die Leichen des Reverend Josiah Abernathy und die des Afrikaners dem Meer. Die schlichte Zeremonie rührte Sarah zutiefst, genau wie das alte Seemannsgebet, das Straithe für beide sprach. Sie konnte nur hoffen, dass auch Okunah, wie ihr Vater, am Ende zur Ruhe gekommen war und seinen Frieden gefunden hatte.
Sie stand an der Reling, nachdem die Männer ihr unbeholfene Beileidsworte gesagt und sich dann zerstreut hatten. Über ihnen zogen die Möwen ihre Kreise. Die aufgehende Sonne ließ das türkisfarbene Meer erstrahlen. Die Phoenix durchschnitt die Wasseroberfläche und ließ nur einen Streifen weißen Schaums zurück. Es dauerte nicht lange, dann war auch der verschwunden.
Noch ehe sie ihn sah, spürte Sarah, dass Straithe neben sie getreten war. Einen schwachen, dummen Augenblick lang sehnte sie sich danach, sich einfach zurückzulehnen und sich von seinen starken Armen umfangen zu lassen. Sie widerstand diesem Bedürfnis und fand doch Trost in seiner bloßen Gegenwart. So standen sie schweigend nebeneinander, und für einen Moment ließ Sarahs Schmerz nach.
Doch das dauerte nur einen Augenblick. Dann wandte Sarah sich ab, um in die Kabine zu gehen. Sie brauchte Zeit, um sich auszuruhen, um zu beten und neue Pläne zu schmieden.
Straithe trat beiseite, damit sie an ihm vorbeigehen konnte. "Wir sprechen später miteinander, Sarah. Wenn du dafür bereit bist."
Sie nickte und ging unter Deck, dankbar, dass der Kapitän für ihre Wünsche Verständnis aufbrachte.
Schon am Abend aber sollte derselbe Mann, dem sie jetzt für sein Feingefühl dankte, sie aus ihrer Trauer reißen und ihren Zorn entfesseln.
8. Kapitel
"Das ist lächerlich!"
Sarah versuchte, ihren unüberlegten Ausruf mit einem Lächeln abzuschwächen.
"Natürlich erwarte ich nicht von dir, dass du mich und meine Familie nach England bringst. Du kannst dich nicht ernsthaft mit noch mehr unwillkommenen Passagieren belasten wollen!"
"Nein", erwiderte Straithe ehrlich, "das will ich auch nicht."
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, umfasste mit beiden Händen den Kelch voll spanischem Portweins und betrachtete sie über den Esstisch aus Mahagoniholz hinweg. Die Reste des Abendessens standen zwischen ihnen. Nach Okunahs Tod hatte John Hardesty die Arbeit des Kochs übernommen. Obwohl Sarah seit dreißig Stunden nichts zu sich genommen hatte, genügte ein Blick auf die graue Masse, die er zubereitet hatte, um ihr den Appetit zu rauben, so dass sie sich mit ein paar Schiffszwiebacks begnügen wollte.
Straithes unerwartete Mitteilung, dass er direkten Kurs
Weitere Kostenlose Bücher