Historical Exklusiv Band 06
nach Macao genommen hatte, um ihren Bruder und ihre Schwester an Bord zu holen, hatte sie veranlasst, auch auf diese Stärkung zu verzichten.
Vor einigen Wochen hatte Sarah sich, von Verzweiflung getrieben, als blinder Passagier an Bord eines Schmugglerschiffes geschlichen, um ihren vermissten Vater zu suchen und ihn nach Hause zurückzuholen. In den Wochen, die seither vergangen waren, hatte sie einen Piratenangriff miterlebt, ein wildes Handgemenge an Bord ihres Schiffes und eine verzweifelte Flucht unter Beschuss vor aufgebrachten Verfolgern beobachtet. Sie konnte und wollte ihre jüngeren Geschwister nicht denselben Gefahren aussetzen.
Während der langen, schmerzlichen Stunden, nachdem der Leichnam ihres Vaters dem Meer übergeben worden war, hatte sie etwas wie einen Plan entworfen. Gleich nachdem sie nach Macao zurückgekehrt waren, wollte sie sich an den obersten Agenten des British East India House wenden. Lord Blair war manchmal ein wenig umständlich, aber er war freundlich. Gewiss würde er für die Abernathys eine Überfahrt auf einem der Ostindienschiffe arrangieren. Waren sie erst einmal in England, würde sie versuchen, die Familie ihrer Mutter ausfindig zu machen. Die Morevilles hatten ihrer Mutter zwar nie ganz verziehen, dass sie den Antrag eines Earl abgelehnt hatte, um einen mittellosen Geistlichen zu heiraten, aber Sarah vertraute darauf, dass ihr Cousin zweiten Grades, der gegenwärtige Lord Moreville, seinen Verwandten Schutz gewähren würde, bis man eine andere Lösung gefunden hatte.
Zuerst allerdings musste sie Straithe von der wahnwitzigen Vorstellung abbringen, sich weiterhin mit ihr oder ihrer Familie belasten zu müssen.
Sie suchte nach den richtigen Worten und betrachtete währenddessen den Mann, der ihr gegenübersaß. Die sanft hin und her pendelnde Schiffslaterne tauchte ihn in weiches Licht. Mit den schwarzen Stiefeln, der eng anliegenden braunen Hose und dem weiten weißen Leinenhemd, das er am Hals offen trug, erinnerte er weniger an einen englischen Aristokraten, als vielmehr an einen freien Kapitän, der nur auf seinem Schiff zu Hause war.
Und es war der Kapitän, an den Sarah sich nun wandte.
"Ich werde dir stets dankbar sein dafür, dass du nach Dong Lo gegangen bist, um meinen Vater zu suchen", begann sie mit ernster Miene. "Aber ich versichere dir, ich erwarte nicht, dass du die Verantwortung für meine Familie übernimmst. Und ich möchte auch gar nicht, dass du das tust."
"Ob du es möchtest oder nicht, spielt keine Rolle. Dein Vater hat mir diese Aufgabe übertragen."
"Er stand unter großem Druck, als er das tat."
"Warum auch immer er es getan haben mag, ich habe es ihm versprochen."
"Mein Vater …"
Sie hielt abrupt inne, als der Schmerz sie erneut zu überwältigen drohte. Ein Tag, eine Nacht und noch ein langer Tag hatten das erste Leid gelindert, aber der bloße Gedanke an den Tod ihres Vaters schnürte ihr nun beinahe die Kehle zu. Sie faltete die Hände im Schoß und begann erneut zu sprechen.
"Mein Vater hatte eine schreckliche Verletzung erlitten, als er dir diese Aufgabe übertrug. Er hatte Schmerzen und konnte nicht klar denken."
Straithe antwortete nicht. Das war auch gar nicht nötig. Seiner Miene war zu entnehmen, dass seiner Meinung nach der Reverend Josiah Abernathy die Fähigkeit zu klarem Denken schon vor längerer Zeit eingebüßt hatte – mit oder ohne Schmerzen.
Sarah erstarrte. In den Stunden der Trauer hatte sie sich an die bedingungslose, grenzenlose Liebe erinnert, die ihr Vater seiner Familie geschenkt hatte. Sie hatte an die Stunden gedacht, in denen er seine Kinder unterrichtet hatte, an die Picknicks, die die Abernathys veranstaltet hatten, ehe Mama gestorben war, an das gemeinsame Lachen und die stillen Gebete. Diese Erinnerungen hatten Sarah nicht blind werden lassen für die Fehler ihres Vaters, zu denen auch sein Fanatismus gehörte, der in den letzten Jahren immer schlimmer geworden war. Dennoch wollte sie von einem Außenstehenden keine Kritik am Reverend gelten lassen, nicht einmal unausgesprochene. Vor allem nicht von einem Außenstehenden wie James Kerrick, dessen eigene Vergangenheit nicht gerade über jeden Zweifel erhaben war.
"Komm schon, Kapitän. Wir können offen miteinander sprechen. Du möchtest genauso wenig mit uns belastet werden, wie ich dir eine Last sein will. Niemand außer mir hat dein Gespräch mit meinem Vater gehört. Lass uns einfach vergessen, dass es jemals stattgefunden hat."
Sie hatte den
Weitere Kostenlose Bücher