Historical Exklusiv Band 36
auf riesigen Webstühlen im obersten Stockwerk des Gebäudes ausgeführt.
Fasziniert vom komplizierten Verfahren des Streckens, lauschte Charles den detaillierten Ausführungen darüber, wie die Wollfasern gedehnt und gezwirnt werden müssen, um sie für die Spinnerei vorzubereiten. Earby geriet über die Qualität der Produkte seiner Spinnerei ins Schwärmen, während Charles die komplizierte Maschine genau betrachtete.
Seltsame Geräusche am anderen Ende des Raumes machten ihn darauf aufmerksam, dass seine Countess nicht mehr neben ihm stand. Er blickte in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war, und sah sie auch schon mit entschlossenen Schritten auf sich zukommen, einen kleinen Jungen fest an der Hand gepackt. Nach ihrem kämpferischen Gesichtsausdruck zu urteilen, schien die Besichtigung tatsächlich sehr viel interessanter zu werden, als der Apparat, mit dem er sich gerade beschäftigt hatte.
Catherines junger Schützling war da jedoch ganz anderer Meinung. Er wollte nicht mitkommen und sträubte sich mit aller Kraft, aber auf dem glatten Boden hatte er keine Chance. Gnadenlos zerrte Catherine ihn an einer Hand hinter sich her. Mit der anderen umklammerte sie ihr Retikül, während ihr stilvoller Hut ihr an seinen Bändern baumelnd auf den Rücken gerutscht war. Staub und Fusseln bedeckten ihren Rock.
Charles war kurz davor, dem Impuls zu lächeln nachzugeben, aber als er Earbys Gesicht sah, zweifelte er nicht daran, dass Zurückhaltung wohl angebrachter war. Er ließ den Blick zu Catherines Schützling schweifen.
Dass der Junge so klein war, erschreckte Charles. Das Kind schien höchstens vier Jahre alt zu sein. Sicherlich beschäftigte man nicht so junge Knaben oder Mädchen. Mager und verdreckt, mit dürren Beinchen, die in schmuddeligen Kniehosen steckten, sah das verwahrloste Kind zum Gotterbarmen aus.
Der Kopf des Jungen war nur noch mit wenigen blonden Haaren, dafür aber mit zahlreichen eiternden Wunden bedeckt. Als Catherine ihn dichter heranzog, bemerkte Charles die vielen Schnittwunden und Kratzer auf seinen kleinen Händen.
Catherine blieb unmittelbar vor dem Geschäftsführer stehen und funkelte ihn ärgerlich an. „Mr Earby würden Sie die Freundlichkeit haben, mir zu erklären, warum dieses kleine Kind unter diesen gefährlichen Maschinen herumkriecht. Er ist doch höchstens vier Jahre alt!“
Earby sah längst nicht mehr so freundlich aus, beeilte sich jedoch zu antworten: „O nein, Lady Caldbeck, ich kann Ihnen versichern, dass er mindestens sechs ist. Er ist recht klein für sein Alter, aber schon seit einem Jahr bei uns. Seine Aufgabe ist es, unter die Maschinen zu kriechen und Fasern, die sich verfangen haben, aus den Zähnen und Gestängen zu entfernen.“
Catherine blickte nach unten auf den Jungen, der sich befreien wollte, lockerte ihren Griff jedoch nicht. „Stimmt das? Bist du sechs Jahre alt?“ Der Junge zog den Kopf ein und wischte sich die Nase am Ärmel ab, gab aber keine Antwort. „Wie heißt du?“
Er schwieg. Auf einmal ließ Earby die Reitgerte, die er so lässig in der Hand gehalten hatte, mit einem blitzschnellen Schlag auf den Rücken des Jungen zischen. „Antworte gefälligst der Lady. Oder willst du noch eins hinter die Löffel?“
Der Junge duckte sich und zerrte heftig an Catherines Arm, blieb aber stumm. Der Aufseher hob erneut die Gerte, doch Catherine stellte sich schützend vor das Kind, wie um den Schlag abzufangen. Earby ließ die Gerte sinken, vielleicht auch, weil Charles’ Miene keinen Zweifel daran ließ, dass er ihm am liebsten den Rachen damit stopfen würde.
Earby trat zurück, und Catherine hatte einen Augenblick die Hand des Kleinen losgelassen. Auf eine solche Gelegenheit hatte das verschreckte Kind nur gewartet, warf sich zu Boden und robbte unter die nächste Maschine.
Er war flink, doch Catherine war schneller. Sie stürzte hinter ihm her, kümmerte sich weder um ihr Retikül noch um ihren eleganten Hut, war blitzschnell auf den Knien und bekam gerade noch seinen kleinen Fuß zu fassen, als er unter dem Apparat verschwinden wollte.
Bei dem folgenden Gerangel ließ Catherine nicht locker und mühte sich, den sich windenden Knaben unerbittlich wieder hervorzuzerren. Er trat nach ihr, strampelte und versuchte, sich an der Maschine festzuklammern, aber sie ließ ihn genauso wenig los wie ein Hund seinen Knochen.
Charles beugte sich zu Boden, um ihr Retikül zu retten, und wollte sich gerade aufrichten, da wurde sein Blick von der
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