Historical Exklusiv Band 42
fühlen.
„Was um alles in der Welt ist denn los mit dir?“, fragte ihre Freundin und blickte von dem Teppich vor dem Kamin, wo sie sich gerade die Finger beim Kastanienrösten verbrannte, zu Talitha auf. Sie hatten das Wohnzimmer für sich allein und sich für den Nachmittag behaglich dort niedergelassen.
Talitha überlegte kurz, ob sie gestehen sollte, dass sie Angst hatte, Lord Arndale habe Lady Parry gegenüber erklärt, sie sei eine absolut amoralische und leichtfertige junge Dame, die nackt vor Künstlern posiere, doch die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. „Ich habe Angst, dass ich etwas getan haben könnte, was Lady Parry verärgert hat und sie mich zu sich bestellt, um mir zu sagen, dass sie meine Dienste nicht mehr länger in Anspruch nehmen will“, brach es schließlich aus ihr heraus.
„Was für ein Unsinn“, erklärte Zenobia bestimmt. „Au! Oh, bitte, reich mir schnell die Schüssel, Tallie – die hier sind zu heiß.“ Sie ließ die Kastanien in die Schüssel fallen und überlegte laut weiter, während sie gleichzeitig an ihren schmerzenden Fingern saugte. „Selbst wenn du etwas getan hättest, um sie zu verärgern, so würde sie doch sicher zuerst Madame d’Aunay schreiben und dich nicht zu sich bestellen.“
Nicht, wenn Lord Arndale ihr eine solch skandalöse Geschichte erzählt hat, dachte Talitha unglücklich. Lady Parry war zu nett, als dass sie ihr Wissen weiterverbreiten würde, doch sicherlich würde sie den Kontakt zu einer so verkommenen jungen Frau nicht weiter aufrechterhalten wollen.
Zenobia drehte sich auf dem Teppich zu ihr um und betrachtete nachdenklich Talithas Gesicht. „Hat das vielleicht etwas mit dieser Sache im Atelier letztens zu tun?“, fragte sie schließlich.
„Oh! Nun ja – ja. Zenna, ich habe den Mann getroffen, der mich im Schrank entdeckt hat – diese Stimme würde ich überall wiedererkennen. Er ist Lady Parrys Treuhänder und Neffe, und er war bei ihr zu Gast, als ich das letzte Mal dort war.“
„Und, hat er etwa gerufen ‚Da ist ja die wunderschöne junge Frau, die ich gestern im Zustande paradiesischer Unschuld gesehen habe‘? Ich gehe mal davon aus, dass er dich nicht wiedererkannt hat, so von Angesicht zu Angesicht, vollständig bekleidet, die Haare aufgesteckt und mit einer Haube auf dem Kopf, oder?“
„Er hat mich nicht erkannt, dessen bin ich sicher. Nur, vielleicht hat er noch einmal darüber nachgedacht und irgendetwas hat seinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen …“
„Was für ein Unsinn. Du hast mir doch erzählt, dass du das Haar offen getragen hast und es dein Gesicht verdeckt hat, weißt du nicht mehr? Es hat eine hübsche Farbe, ist aber auch wiederum nicht so selten, als dass er dich daran erkennen könnte – außerdem siehst du ganz anders aus, wenn es hochgesteckt ist. Ich glaube auch nicht, dass es dein Haar war, was seine Blicke angezogen hat, oder?“
Zenobia stand auf und nahm Talitha die Schüssel mit den Kastanien aus den Fingern. „Wenn du sie nicht essen willst, esse ich sie. Glaubst du wirklich, dass er so sehr auf dich geachtet hat? Bei Lady Parry, meine ich? Das erste Mal hätte er selbstredend schon aus Stein sein müssen, wenn er dich nicht beachtet hätte.“
„Nein, du hast schon recht, Zenna. Ich stelle mich ziemlich dumm an. Alles, was er bei Lady Parry gesehen hat, war eine Hutmacherin, keine junge Dame und auch kein Aktmodell.“
„Ach, aber du wünschst dir, dass es anders wäre, stimmt’s?“
Talitha schnitt ihrer Freundin ein Gesicht, doch ein verräterischer Teil ihres Verstandes wünschte sich tatsächlich, dass der gelassene Blick aus diesen grauen Augen sie angesehen und weder ein Aktmodell noch eine bescheidene Hutmachergehilfin, sondern eine feine junge Dame unter den Schleiern gesehen hätte. Hör auf, dachte sie. Er ist gefährlich. Damit beugte sie sich vor, um sich eine der immer noch heißen Kastanien aus der Schüssel zu klauben.
Selbst eine lange Nacht des Herumwälzens schaffte es nicht, Talithas dunkle Vorahnung zu verscheuchen. Sie kleidete sich mit mehr als der üblichen Sorgfalt an und schrieb ihrer Arbeitgeberin, dass sie unerwartet verhindert sei. Mit der Nachricht sandte sie Annie fort und hoffte mit gekreuzten Fingern, dass Madame ein Auge zudrücken würde wegen dieser bei ihr so selten vorkommenden Abwesenheit.
Talitha nahm eine Droschke; sie wollte nicht erneut riskieren, zu spät oder völlig aufgelöst auf Lady Parrys Schwelle zu erscheinen. Doch
Weitere Kostenlose Bücher