Historical Exklusiv Band 42
zittrig und verzweifelt aus, dass Talitha wünschte, sie könnte ihn umarmen – worüber er, wie sie wusste, natürlich völlig entsetzt wäre. „Sagen Sie ihr doch bitte, dass ich hier war und meine besten Wünsche für ihre baldige Genesung schicke.“
„Darauf gibt es keine Hoffnung, Miss Grey, keine Hoffnung. Dr. Knighton hat gestern angerufen und uns alle vorgewarnt.“ Ein Schluchzer entfuhr ihm. „Sie entschwindet … entschwindet.“
Talitha zögerte. „Soll ich ihren neuen Hut hier lassen, was meinen Sie, Smithson?“
„Ja, bitte, Miss Grey. Ich lege ihn neben das Bett auf ihren Nachttisch, dann kann sie ihn jederzeit betrachten. Ist er hübsch geworden, Miss Grey?“
„Sehr“, versicherte Talitha ihm. „Ich habe ihre rosa Lieblingsschleifen eingearbeitet und überall gerüschte Seide unter der Krempe verteilt. Über dem rechten Ohr steckt eine einzelne, rosafarbene Rose.“
„Oh, das findet sie bestimmt schön, Miss Grey.“ Der alte Mann nahm die Schachtel in seine zittrigen Hände.
„Auf Wiedersehen, Smithson, Sie lassen es mich doch wissen, wenn … wenn es ihr besser geht?“
Zutiefst niedergeschlagen gab Talitha dem Kutscher Madame d’Aunays Adresse an und kletterte zurück in die Droschke. Man konnte selbstverständlich nicht davon ausgehen, dass die gebrechliche alte Dame ewig lebte, doch Miss Gower hatte stets einen so unverwüstlichen Eindruck auf sie gemacht und eine solche Lebenslust gezeigt, dass es unmöglich erschien, dass die Jahre sie je einholten.
„Das wird dich lehren, dir über Begegnungen mit diversen Gentlemen und über das, was sie wohl denken mögen, den Kopf zu zerbrechen“, tadelte Talitha sich laut, während die Droschke in Richtung Piccadilly abbog. „Es geschehen wesentlich wichtigere und ernstere Dinge als deine blödsinnigen Abenteuer. Die arme Miss Gower, und dabei hat sie nicht einmal eine Familie, die sich um sie kümmert!“
4. KAPITEL
T alitha verbrachte die ganze nächste Woche mit beispiellos harter Arbeit in Madame d’Aunays Hinterzimmer. Dennoch kreisten ihre Gedanken um Miss Gower oder, wenn jegliche Selbstbeherrschung sie im Stich ließ, um Lord Arndale. Sie konnte sich nur deswegen nicht davon abhalten, so sagte sie sich, weil er sie so unglaublich verärgert hatte – nicht etwa, weil sie sich im Atelier von Mr Harland begegnet waren, und ganz bestimmt nicht, weil er ein so überaus attraktiver Mann war.
Wie sie befürchtet hatte, war Lady Parrys Hut nicht mehr zu retten. Sie musste ihn komplett neu anfertigen. Beflügelt von der Tatsache, den Hut zweimal verkauft zu haben, sah sich Madame d’Aunay genötigt, Talitha wegen des Missgeschickes nicht zu tadeln, sondern ihre persönlichen Dienste einer gewissen Mrs Leighton zu empfehlen. „Recht gewöhnlich, natürlich“, teilte sie Talitha vertraulich mit, „aber frisch verheiratet, und ihr Ehemann ist so reich wie nur irgendwer und verweigert ihr absolut nichts. Ich gehe davon aus, dass sie mindestens so viel ausgeben wird wie Miss Gower. Schließlich will ich ja nicht, dass du durch den Verlust einer deiner Kundinnen leidest.“
Talitha jedoch kümmerte der finanzielle Verlust in Bezug auf Miss Gower herzlich wenig. Ihre Trauer bei der Nachricht, dass die alte Dame zwei Tage nach ihrem Besuch schließlich verschieden war, ging so tief, als wäre sie eine nahe Verwandte gewesen.
Samstags abends versammelten sich die Bewohnerinnen des Logierhauses in der Upper Wimpole Street stets vor dem Dinner im Wohnzimmer. Obgleich jede von ihnen sich mit irgendeiner kleinen Handarbeit beschäftigte, spürte Talitha die Gelöstheit, die das Ende einer geschäftigen Woche mit sich brachte.
„Es ist so schön, wenn wir alle zusammen sind“, verkündete Zenobia fröhlich. „Bist du heute Abend nicht an der Oper, Millie?“
„Nein, wir hatten gestern den letzten Auftritt mit diesem Stück. Heute Abend gibt es einen Maskenball, und die Proben für das neue Stück fangen erst Montag an – es heißt ‚Der verlorene italienische Prinz‘ und ist überaus dramatisch.“
„Hast du eine gute Rolle?“, fragte Talitha. Sie sortierte gerade einen Stapel farbiger Seidenbänder, die sich wie von Zauberhand völlig ineinander verwickelt hatten, während sie unangetastet in ihrer verschlossenen Schachtel lagen. Millie war eine Besonderheit in der Welt des Theaters – eine wahrhaft keusche junge Dame – und ihre Tante und ihre Freundinnen taten ihr Bestes, sie zu unterstützen, wobei sie
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