historical gold 036 - Der Flug des Falken.doc
mieden Meriel wie eine Aussätzige.
In der folgenden Zeit ging sie ihren üblichen Aufgaben nach, ohne jedoch die Ungeduld meistern zu können, die sie mehr und mehr befiel. Es drängte sie danach, den ersten Schritt in die Ungewisse Zukunft zu wagen.
Nach jenem Morgen, an dem ihre Ewigen Gelübde anberaumt gewesen waren, stand die Sonne zum dritten Male am Himmel, als Meriel im Schreibsaal von einer Magd erfuhr, ihr Bruder wünsche sie zu sprechen. Langsam erhob sie sich vom Pult und ließ den Blick durch den Saal schweifen.
Sechs Benediktinerinnen waren damit beschäftigt, kostbare Handschriften zu kopieren und auszumalen. Plötzlich empfand Meriel Traurigkeit. Nie wieder würde sie den Fuß in diesen Raum setzen und das von ihr begonnene Perga ment vollenden. Eine andere würde ihr Werk fortführen. Noch hatte sie Lambourn nicht verlassen, doch bereits jetzt vermisste sie die liebgewonnene Umgebung.
Beklommen erhob sie sich und strich den Rock glatt. Das einfache schwarze Gewand war aus schwerer Wolle und würde ihr noch manches Jahr gute Dienste tun. Sie seufzte leise und begab sich zum Empfangsraum der Mutter Oberin.
Zögernd hielt sie vor der Tür an und hoffte, William möge ihre Entscheidung dulden und nicht versuchen, sie rückgängig zu machen. Bestimmt hatte er in den vergangenen drei Tagen mit Haleva, seiner Gemahlin, darüber beraten, was er mit der unbotmäßigen Schwester tun solle. Vielleicht freute er sich sogar, sie wiederzusehen, auch wenn er im allgemeinen ein sehr pflichtbewusster, strenger Mensch war. Jedenfalls war es Meriel bislang immer gelungen, ihm ein Lächeln zu entlocken.
Entschlossen betrat sie den Raum und blieb überrascht stehen. Nicht William, sondern ihr fünf Jahre älterer Lieblingsbruder Alan war gekommen. Sie beide waren die jüngsten der Geschwister, und er hatte, wie Meriel, von der walisischen Mutter die leuchtendblauen Augen und dunkelbraunen Haare geerbt. Anders als sie, die Gwenllians zierliche, mittelgroße Statur hatte, war er so hochwüchsig und breitschultrig wie sein normannischer Vater. In der Kind heit war sie ihm auf Schritt und Tritt gefolgt, begierig, von ihm das Reiten, Schwimmen und die Kunst der Beizjagd zu erlernen.
„Alan!" sagte sie staunend und lief erfreut zu ihm.
Lachend schlang er die Arme um sie, wirbelte sie im Kreis und stellte sie behutsam auf die Füße zurück. „Es wundert mich nicht", erwiderte er fröhlich, „dass man dich hier nicht haben will, du kleiner Wildfang!"
„Wieso bist du in Lambourn?" fragte sie und krauste die Stirn. „Ich dachte, du seist bei Mylord Moreton! Bist du nicht mehr sein Schildmann?"
„Eine Frage nach der anderen", erwiderte Alan de Vere gutmütig. „Setzen wir uns, Meriel." Er wartete, bis die Schwester sich in einem ledernen Faltsessel niedergelassen hatte, zog einen Schemel heran und nahm ebenfalls Platz. „Keine Angst!" sagte er dann schmunzelnd. „Theobald of Moreton ist viel zu klug, um einen solchen Prachtkerl wie mich aus dem Dienste zu entlassen! Nein", fügte er ernster hinzu, „er hatte mich mit einem Brief nach Winche ster entsandt und mir gestattet, dich auf dem Rückweg zu besuchen. Ich war daheim in Beaulaine, als der Bote aus Lambourn eintraf. Ehrlich gesägt, hat die Nachricht mich erleichtert, denn ich bin der Ansicht, dass du nicht zur Nonne taugst. Du bist zu lebenslustig, um dein ganzes Dasein hinter hohen Klostermauern zu fristen."
Meriel schaute den Bruder mit gespielter Verzweiflung an. „Wenn Mutter Rohese und du so überzeugt seid, dass ich nicht berufen bin, warum habt ihr es mir nicht früher zu verstehen gegeben? Es hätte mir in den vergangenen drei Monaten vieles leichter gemacht."
„Ich kann nicht beurteilen, ob du eine Berufene bist oder nicht", entgegnete Alan de Vere.
„Aber ich meine, und die Mutter Oberin ist wahrscheinlich derselben Ansicht, dass ein solcher Schritt aus eigenem Antrieb erfolgen sollte, einerlei, was jemanden dazu bewegen mag. Wenn du ihn aus voller Überzeugung getan hättest, wäre es vielleicht keine schlechte Lösung gewesen."
„Sind William und Haleva sehr böse auf mich?" erkundigte Meriel sich kleinlaut.
„Nun, unsere Schwägerin ist erneut gesegneten Leibes, und du weißt, wie es dann um ihre Stimmung bestellt ist."
Meriel nickte. Williams Gattin, ohnehin schon keine sehr umgängliche, freundliche Frau, wurde ein wahrer Zankapfel, wenn sie guter Hoffnung war.
„Sie weigert sich, dich bei sich aufzunehmen", teilte Alan ihr
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