historical gold 036 - Der Flug des Falken.doc
erforschen.
„Gehört das Tier dir?" erkundigte Meriel sich freundlich.
„Welches?" fragte die Magd und machte ein verständnisloses Gesicht.
Meriel brauchte einen Moment, bis sie begriffen hatte, und lächelte dann zum ersten Male, seit sie vom Ausritt zurückgekommen war. „Oh, die Fantasie muss mir einen Streich gespielt haben", sagte sie leichthin. „Einen Herzschlag lang glaubte ich eben, ich hätte ein winziges Kätzchen gesehen."
„In Warfield gibt es viele Katzen, aber doch nicht hier oben!" entgegnete die Magd achselzuckend, während sie das vom Morgenbrot stehengebliebene Brett mit der leeren Milchkruke hochnahm.
„Wie schade!" erwiderte Meriel mit todernster Miene. „Ich liebe diese Geschöpfe!"
„Ich muss gehen", murmelte Margery und verließ rasch den Raum.
Meriel setzte sich zum Essen, löste schmale Streifen Fleisch von den gebratenen Hühnerschenkeln und fütterte das Kätzchen. Ihm das graubraun gefleckte Fell streichelnd, sagte sie: „Ich werde dich Galam nennen." Das niedliche Wesen schnurrte wohlig, sprang ihr auf den Schoß und rollte sich behaglich zusammen.
Auch später wich es ihr nicht von der Seite, tappte mit hochgerecktem Schwänzchen neben Meriel zum Fenster und schaute sehnsüchtig zu den Vögeln, die auf den Fenstersims flogen und ausgestreute Brotkrumen aufpickten. Tapsig versuchte es, zu ihnen emporzuspringen, und blickte Meriel verdutzt an, da es keinen von ihnen erwischen konnte. Bald verlor es das Interesse an den gefiederten Besuchern und begann, nach der eigenen dünnen Rute zu haschen. Des Spieles überdrüssig geworden, hüpfte es auf das Lager, wurde jedoch sogleich durch einen Diestelfink abgelenkt, der sich verflogen hatte und aufgeregt zwitschernd durch das Gemach irrte.
Meriel tat der schillernd buntgefärbte Vogel leid. Sie konnte sich vorstellen, wie er sich fühlen musste, denn auch sie sehnte sich nach Freiheit. So gut sie konnte, scheuchte sie das verstörte Tierchen, bis es den rettenden Ausgang entdeckt hatte und fröhlich trillernd davongestoben war.
Nach der Abendspeise legte sie sich zur Ruhe, und Galam kuschelte sich eng an sie. Den ganzen Tag über hatte sie geglaubt, sich durch die kleinen Beschäftigungen die geistige Frische bewahren zu können, um sich dem Earl of Shropshire zu widersetzen, bis er ihrer überdrüssig wurde.
Nun jedoch, eingehüllt von der Dunkelheit, erfasste sie die Angst, ihre Kraft könne nicht reichen, und voller Verzweiflung Schloss sie die Augen.
Die nächsten Tage schleppten sich auf die gleiche Weise dahin, und nur das Kätzchen brachte Freude in das bedrückende Einerlei. Dann erschien die Magd eines Morgens überraschend zum zweiten Male, einen Schwung Kleider auf dem Arm tragend, und erklärte der sie erstaunt anschauenden Meriel: „Mylord Warfield wünscht, dass du eine dieser Roben anziehst. Er wird dich in Kürze zu sich rufen lassen."
Meriel warf einen abschätzigen Blick auf die Sachen und entgegnete kühl: „Bring sie ihm zurück. Ich habe dafür keine Verwendung."
„O nein, Mistress!" widersprach Margery ent setzt. „Das kann ich nicht! Er würde sehr böse werden! Außerdem sind sie doch ganz bezaubernd!" fügte sie bewundernd hinzu, während sie die Gewänder über eine Truhe legte.
„Ich will sie trotzdem nicht!" erklärte Meriel mit Nachdruck. „Beunruhige dich nicht. Ich selbst werde es dem Earl sagen."
„Wie es dir beliebt", murmelte Margery kopfschüttelnd und verließ das Gemach.
Verachtungsvoll schaute Meriel auf die Kleider. Am liebsten hätte sie alles genommen und zum Fenster hinausge schleudert. Glaubte Adrian of Warfield wirklich, er könne sie mit solchen Dingen bestechen? Die Vernunft überwog jedoch, und auch die Neugierde. Es wäre Verschwendung gewesen, die Roben in den Fluss zu werfen, und zudem waren sie tatsächlich hübsch.
Neben Unterhemden gab es blütenweiße Wimpel und Gebende, verzierte Gürtel und juwelenbesetzte Gewandspangen, zwei kostbar durchlegte Stirnreife, dazu bestickte Stoffschuhe und Stiefelchen aus weichem Damhirschleder. Die Tuniken waren aus golddurchwirktem Stoff, die Bliauts aus Seide, Samt oder Damast, und die pelzgefütterte Kappe g einen herrlichen Fellbesatz. Auch die Farben waren wundervoll, nicht die dunklen, grauen oder bräunlichen Töne, wie Niedere sie zu tragen hatten, sondern leuchtendes Krapprot, sattes Purpur, lichtes Blau und golden schimmerndes Gelb. Es war eine Ausstattung wert einer Frau vornehmem Geblütes — oder einer
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