historical gold 036 - Der Flug des Falken.doc
freiheitsliebender Geist ließ sich nicht in Ketten legen, obgleich sie eine Gefangene war. Einen jungen Falken, einen Wildfang, konnte man zähmen, sie hingegen vermutlich nie. Wahr scheinlich würde sie bleiben, was sie war — nach außen hin sanft und nachgiebig, innerlich jedoch voll des Dranges nach Ungebundenheit und Selbständigkeit. Andererseits hoffte Adrian, dass sie sich nur deshalb so abweisend verhielt, weil er sie von Anfang an viel zu sehr eingeschüchtert hatte. Zur Beizjagd vorgesehene Vögel mussten auch erst mit der Nähe des Menschen vertraut gemacht werden, und wie ein geduldiger Falkner versuchte er nun, Meriel an sich zu gewöhnen. Bis auf den unüberlegten Fluchtversuch war er mit dem Erfolg des Ausrittes recht zufrieden. Meriel hatte sich in seiner Gesellschaft entspannt und sogar fröhlich gelacht. Da sie eine rasche Auffassungsgabe besaß, würde sie den Widerstand sicher fallen lassen, sobald sie begriffen hatte, dass seine Absichten lauter waren.
Sie war schön und hatte Besseres verdient, um sich zu kleiden, nicht nur die hässliche, einfache braune Tunika. Es fiel ihm schwer, das erregende Bild des reizvollen, von den zerrissenen Gewändern unvollkommen verhüllten Körpers zu verdrängen. Er hatte dieses Mädchen begehrt, als es keuchend unter ihm lag, und durch den Anblick der ent blößten Brust war seine Leidenschaft noch gesteigert worden. Er hatte gefährlich nahe davor gestanden, die Beherrschung zu verlieren, und Meriel war das natürlich aufgefallen. Die Angst in ihren Augen hatte ihn zur Besinnung gebracht, und die Erkenntnis, dass sie, entgegen seiner Annahme, offenbar doch nicht über Erfahrungen im Umgang mit Männern verfügte. Das machte alles nur noch schwieriger, denn nun musste er viel behutsamer und einfühlsamer sein.
Unwillkürlich fragte er sich, ob er die Ausdauer haben würde, sich auch weiterhin zurückzuhalten. Ungeachtet seines Strebens nach christlichem Lebenswandel spürte er, dass er sich innerlich von Gott entfernte. Schon lange war ihm nicht mehr der Seelenfriede zuteil geworden, der ihn in der klösterlichen Umgebung erfüllt hatte. Daran mochte das an Tücke, Hinterlist und Grausamkeit so reiche Leben schuld sein, das zu führen er jetzt genötigt war.
Es ließ sich aber auch nicht ausschließen, dass bei ihm im Laufe der Zeit mehr und mehr schlechte Eigenschaften zutage traten, die schon immer vorhanden gewesen waren, bislang jedoch im Verborgenen geschlummert hatten.
Er konnte nicht vor sich verleugnen, dass sein Gebaren falsch war. Alles waren nur Vorwände — sein Beharren auf Ahndung eines an sich nichtigen Vergehens, oder die vorgebliche Besorgnis, Meriel zu ihrem eigenen Wohl in Warfield festzuhalten. Er war eigensüchtig und handelte nur aus niedrigen Beweggründen. Eine mahnende innere Stimme riet ihm, Meriel ziehen zu lassen, um wieder, unbelastet von Gewissensbissen und Schuldgefühlen, seinen inneren Gleichmut zu finden, doch im selben Augenblick wusste er, dass er sich nie dazu überwinden konnte.
7. KAPITEL
Tage vergingen, in denen Meriel den Earl of Shropshire nicht zu Gesicht bekam. Ihrer Überzeugung nach steckte nur die Absicht dahinter, sie ganz bewusst die Trostlosigkeit der Gefangenschaft fühlen zu lassen, damit sie sich in ihrer Einsamkeit nach seiner Gesellschaft sehnte und bereit war, ihren Stolz zu überwinden.
Die Beschäftigung mit den kleinen Dingen des Lebens half ihr, die Enge des Gefängnisses zu ertragen. Auf ihre Bitte hin brachte die Magd ihr Nadel und Faden, und eine Weile war sie damit befasst, die Risse an Tunika und Chainse, dem leinenen Untergewand, auszubessern.
Oft suchte sie Zuflucht im Gebet, betrachtete die Mahlzeiten als willkommene Abwechselungen und saß, Erinnerungen an glücklichere Zeiten nachhängend, vor dem Fenster, den Blick in die Ferne gerichtet. Sie sah sich wieder am Hofe des Vaters in Beaulaine, im Kreise der Benediktinerinnen von Lambourn Priory, inmitten der regen Geschäftigkeit von Moreton Castle oder umgeben von den Menschen, für deren Wohl sie in Avonleigh verantwortlich gewesen war.
An einem der Tage, Meriel wusste nicht mehr, dem wievielten ihrer Abgeschiedenheit, kam Margery mit dem Es sen und stellte gleichzeitig einen zugedeckten Weidenkorb neben der Truhe ab. Das Leinentuch bewegte sich, und seltsam kratzende Geräusche waren zu vernehmen. Im nächsten Augenblick krabbelte ein Kätzchen hervor, sprang geschmeidig auf den Fußboden und begann neugierig, die Kammer zu
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