historical gold 036 - Der Flug des Falken.doc
drückte einen Kuss auf Meriels wächserne Stirn. „Ich habe dich geliebt", flüsterte er bewegt, „von Anfang an. Aber ich war zu lange mit Blindheit geschlagen und wusste nicht, was mein Herz empfand." Er seufzte leise, lehnte sich zurück und liebkoste Meriels fahle Wange. „Ich wollte dich besitzen, meine Sahin, mein kühner Falke, dich ganz zu meinem Eige n machen. Deshalb habe ich dir die Schwingen gestutzt und dich eingesperrt, damit nur ich mich an dir erfreuen konnte. Du jedoch hast einen Weg in die Freiheit gefunden und mir gezeigt, dass du dich nicht bezwingen lässt. Nun begreife ich, was Abt Honorius mir einst sagte. Aus eigennützigem Wahn zerstören wir Menschen oft das Liebste, das wir auf Erden haben. Und das habe ich getan. Möge deine Seele in Frieden ruhen."
Ein Windstoß ließ die Flammen der Wachsstöcke flackern, und Wolken überschatteten den Mond. Einen Augenblick lag Meriels Antlitz im Dunklen, ehe erneut silbriger Glanz es überflutete. Adrian schaute zum Fenster, in das flimmernde Licht der verblassenden Sichel, und beschloss, Meriel dort sterben zu lassen, wo sie es sich gewünscht hätte — der Freiheit nahe, umweht von der linden Frische der Nacht, angesichts der dämmernden Morgenröte.
Er stand auf, holte aus einem eisenbeschlagenen Kasten ein wollenes Plaid und schlug den seidenen Bettüberwurf zurück. Sacht hob er Meriel an, hüllte sie in die wärmende Decke und trug sie behutsam zu der vor dem Fenster stehenden Truhe. Er setzte sich, schmiegte die Kranke an die Brust und sah erleichtert, dass sie noch atmete. Die Augen schließend, betete er: „Vater im Himmel, wenn es nicht dein unumstößlicher Wille ist, Meriel zu dir zu rufen, dann lass sie mir! Gib mir die Möglichkeit, das Unrecht gutzumachen, das ich an ihr begangen habe. Ich schwöre und gelo be, alles zu tun, um meine Schuld zu büßen. Ich liebe Meriel und flehe dich an, mich armen Sünder zu erhören."
Er schwieg, und Friede erfüllte sein Herz. Endlich war er fähig gewesen, die harte, unbeugsame Seite seines Wesens zu überwinden und zu Gott zurückzufinden. Meriel hatte ihm dazu verholfen, mit ihrer inneren Kraft, der unbeschwerten Herzlichkeit und beseelten Wärme. Selbst wenn sie ihm genommen werden sollte, würde ihm das Gute verbleiben, das sie ihm geschenkt hatte.
Eine lange Zeit verstrich, in der er sie reglos in den Armen hielt, bang ihrem flachen Atem lauschte und das bleiche, schmale Antlitz betrachtete.
Die ersten glühenden Strahlen der aufgehenden Sonne entflammten den Himmel, und zartes, rosiges Licht drang durch die Fenster. Ein güldener Hauch überzog Meriels Züge, und unversehens hatte Adrian den Eindruck, das Blut sei in ihre Wange n zurückgekehrt. Voll aufkeimender Hoffnung schaute er sie an und meinte, seinen Augen nicht trauen zu können, als er das schwache Zucken ihrer dichten Wimpern bemerkte.
„Meriel!" flüsterte er staunend, und im selben Moment schlug sie die Lider auf. „Merie l", wiederholte er ergriffen, „hörst du mich?"
Sie antwortete nicht, starrte ihn nur verständnislos aus großen schimmernden Augen an.
„Meriel", sagte Adrian noch einmal eindringlich. „Weißt du nicht, wer ich bin?"
Sie hob die Brauen und blinzelte, doch ihr Blick blieb leer und ohne Erkennen.
Ein jäher Schreck erschütterte Adrian, und beklommen fragte er sich, ob sie durch den Sturz und das Aufprallen im Wasser das Gedächtnis verloren hatte. Die tiefe Wunde über der Schläfe zeugte von einem heftigen Schlag gegen schroffes Gestein.
„Ich habe den himmlischen Vater inständig um Gnade für dich angefleht", sagte er ernst.
„Und wenn es sein unergründlicher Wille ist, dich des Verstandes zu berauben, so werde ich dich dennoch lieben. Vielleicht ist es sogar ein weiser Ratschluss, dir die Fähigkeit zu nehmen, dich meines niederträchtigen Verhaltens zu entsinnen." Lächelnd drückte Adrian einen Kuss auf Meriels Stirn und versprach: „Ich gelobe, stets für dich da zu sein, meine kleine Sahin! Niemand soll dir je wieder wehe tun, nicht, solange noch ein Hauch Atem in mir ist!"
Ein Sonnenstrahl, golden und belebend, traf Meriel, und ein inniges Lächeln erhellte ihr Gesicht.
Alan de Vere blieb an der Bude stehen, wo Naschwerk feilgeboten wurde, und verlangte einen warmen Honigkuchen. Mit kokettem Augenaufschlag reichte die junge Bäckerin ihm das Gewünschte, und er zwinkerte ihr zu. Sie war ein hübsches, dralles Kind, und er spielte mit dem Gedanken, eines Tages, wenn er mehr
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