historical gold 036 - Der Flug des Falken.doc
Kunde von Meriels Verschwinden hatte er sich nicht mehr von ihm getrennt. Schweigend kniete er neben der Schwester nieder und hob die runde, polierte Silberscheibe, so dass sie sich gemeinsam betrachten konnten.
Stumm blickte Meriel auf ihr Bild und seines, sah die gleichen dunkelblauen Augen, braunen Locken und auffallende Ähnlichkeit der Gesichtszüge und wandte sich dann dem Bruder zu. Staunen und stille Freude erhellten ihr Antlitz, und plötzlich schlang sie die Arme um ihn. „Noch heute früh hatte ich mir gewünscht", sagte sie schlicht, „eine Familie zu haben, die an meiner Hochzeit teilnehmen würde, und nun wird mir ein Bruder geschenkt. Es tut mir leid, dass du mich für tot gehalten hast. Vergib mir, denn es muss eine schwere Zeit für dich gewesen sein."
Zu bewegt, um etwas zu sagen, drückte er sie einen Moment an sich. Sie hatte ihn zwar nicht erkannt, nahm es jedoch als gegeben, dass sie zueinander gehörten. Schließlich löste er sich aus der Umarmung, schüttelte den Kopf und entgegnete herzlich: „Die Schuld liegt gewiss nicht bei dir. Jeder musste denken, dass dir ein Unglück widerfahren ist, da niemand eine Nachricht von dir erhalten hatte. Es ist nicht deine Art, rücksichtslos oder eigensüchtig zu sein, Meriel. Du aber, Mylord Warfield, du hast einiges zu erklä ren!" fügte Alan grimmig hinzu, stand auf und stellte den Spiegel auf eine Truhe. „In Shrewsbury erzählt man sich, du hättest meine Schwester im Königlichen Walde gefunden und hier eingesperrt, bis sie einwilligte, deine Gemahlin zu werden. Mit welchem Recht? Sie ist keine Leibeigene! Und wie kommt es, dass sie sich nicht mehr ihrer Herkunft entsinnt?"
Alan de Veres mutiges Verhalten nötigte Adrian de Lancey Respekt ab und überzeugte ihn, tatsächlich Meriels Bruder vor sich zu haben. Diese Furchtlosigkeit und Kühnheit war beiden gemein. „Was du in der Stadt vernommen hast", erwiderte er ruhig, „entspricht, oberflächlich betrachtet, der Wahrheit. Ich habe Meriel im Forst angetroffen. Da sie zu Fuß war und einen Falken sowie Jagdbeute bei sich trug, musste ich annehmen, dass sie gewildert hatte. Sie gab vor, aus Wales zu kommen und auf dem Wege nach Nottingham zu sein." Adrian lächelte schwach. „Sie ist eine schlechte Lügnerin, und natürlich habe ich die Geschichte auch nicht geglaubt. Weil ich nicht wusste, wer Meriel war, und auch nicht wollte, dass sie schutzlos zurückbleibt, habe ich sie hergebracht."
„Warum hast du behauptet, nach Nottingham zu wollen?" wandte Alan sich erstaunt an die Schwester.
„Ich kann mich nicht erinnern", sagte sie kaum hörbar und rieb sich die Stirn.
Sie wirkte so verloren, dass Adrian ihre Hand ergriff und sie aufmunternd drückte.
„Avonleigh gehört doch zu Moretons Besitz, nicht wahr?" warf Richard de Lancey ein und fügte, als Alan de Vere nickte, nachdenklich hinzu: „Mylord Moreton zählt zu Stephens Anhängern, während wir Maud of England unterstützen. Könnte es sein, dass Meriel Avonleigh nicht gefährden wollte und deshalb ihre Herkunft verschwieg? Erst recht, da du nicht in England weiltest?"
„Es wäre möglich", stimmte ihr Bruder zu.
„Warum sollte sie befürchten, ich könnte Avonleigh grundlos angreifen?" fragte der Earl of Shropshire ungehalten.
„Nun, du stehst in einem anderen Lager", sagte sein Schwager achselzuckend. „So abwegig ist der Gedanke also nicht. Ich möchte jedoch mehr über den Unfall erfahren, der den Gedächtnisverlust meiner Schwester verursacht hat."
„Sie ist gestürzt", erwiderte Adrian de Lancey ausweichend und fuhr rasch fort: „Ich bedauere sehr, dass du durch ihr Verschwinden so in Sorge geraten bist. Selbstverständ lich hätte ich Meriel nach Avonleigh geleitet, wäre mir bekannt gewesen, wo sie lebt. Dann hätte ich auch in aller Form um sie gefreit. Gewiss, ich habe sie unter ungewöhnliche n Umständen kennengelernt, doch das ist jetzt Vergangenheit. Meriel hat aus freien Stücken eingewilligt, meine Gattin zu werden, und wird sich nie zu beklagen haben. Da die Trauung heute morgen vollzogen wurde, hoffe ich, dass du dich damit abfindest."
„N iemals!" entgegnete Alan de Vere wütend. „Ich werde nicht widerspruchslos hinnehmen, dass du meine Schwester verführt oder ihr sogar Gewalt angetan hast! Und ich weiß das Recht auf meiner Seite! Eine auferzwungene Ehe hat keine kirchliche Gültigkeit!"
Im stillen musste Adrian dem Schwager beipflichten. Doch er war bereit, sich gegen jeden zu stellen, der von
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