Historical Lords & Ladies Band 40
Von Osten her wehte ein kalter Wind über das Land. Doch das unfreundliche Wetter hinderte die Gemeindemitglieder nicht daran, sich nach dem Gottesdienst vor dem Tor zu versammeln und Klatschgeschichten auszutauschen. Natürlich war Christians Schussverletzung das wichtigste Gesprächsthema.
Giles wurde von besorgten Nachbarn und Freunden umringt, die nach dem Befinden seines Bruders fragten, und Megan nutzte die Gelegenheit, um auf den Friedhof zu gehen.
In ihrer frühen Jugend war die winzige Kirche ein bedeutsamer Teil ihres Lebens gewesen. Nur selten hatte die Familie Drew einen Sonntagsgottesdienst versäumt und an den meisten erfreulichen oder traurigen Messen teilgenommen. Georgianas Hochzeit weckte bittersüße Erinnerungen. So aufrichtig hatte sie sich für die ein Jahr ältere Freundin gefreut, die mit dem liebenswerten Philip Petersham vermählt worden war … Diesen Gentleman hatte die junge Dame während ihrer ersten Londoner Saison kennengelernt. Megan mochte ihn von Anfang an. Trotzdem blickte sie der Kutsche, in der das frischgebackene Ehepaar die Hochzeitsreise antrat, mit gemischten Gefühlen nach, denn sie erkannte, wie einschneidend sich ihr Leben verändern würde. Und sie behielt recht. Sechs Monate später hatte Christian vor dem Traualtar gestanden. Sie seufzte wehmütig. Gewiss, es war zu erwarten gewesen, dass sie die verheiratete Freundin nur selten sehen würde. Aber sie hätten wenigstens brieflich in Verbindung bleiben können. Durch Megans Schuld war der Kontakt eingeschlafen. Georgiana hatte ihr mehrmals geschrieben. Und Megan, nach Christians Hochzeit todunglücklich, hatte nicht einmal versucht, mit seiner Schwester zu korrespondieren. Verständlicherweise waren Georgianas Briefe bald ausgeblieben.
Andere schmerzliche Erinnerungen kehrten zurück, während sie zu Caroline Drews Grab wanderte. Seit der Ankunft in Moor House hatte Sophie den Friedhof schon zweimal besucht. Megan war zum ersten Mal hier. Beim Anblick des schönen Grabsteins, der nur den Namen der Schwägerin trug, brannten Tränen in ihren Augen. Wie traurig, dass Charles nicht an der Seite seiner geliebten Frau ruhte … Aber wegen des warmen indischen Klimas hatte man ihn möglichst schnell beerdigen müssen.
Eine Zeit lang betrachtete sie das Grab ihrer Eltern, dann ging sie zu den Gräbern der einflussreichsten Gemeindemitglieder. Henry Blackmore war drei Monate nach der Hochzeit seines Sohnes gestorben. Nach jahrelangen Ausschweifungen hatte sein Herz die Belastung nicht mehr ertragen und zu schlagen aufgehört. Eines Abends brach er in seinem Schlafzimmer zusammen. Er war neben seiner Gemahlin bestattet worden, einer attraktiven, allseits geachteten Frau, die ihr älterer Sohn sehr geliebt hatte.
Nun glitt Megans Blick zu Louisa Blackmores Grab hinüber. Seltsam, welch ein schlichter Grabstein die letzte Ruhestätte der viel gerühmten Schönheit markierte … nur der Name, das Geburts- und das Todesdatum waren eingemeißelt, darunter die Worte: „Und ihr Kind.“ Was für eine Tragödie …
Ein Geräusch hinter Megans Rücken weckte ihre Aufmerksamkeit. Als sie sich umdrehte, sah sie Mr Kent unter den Zweigen einer hohen Zeder hervortreten. In der Kirche hatte sie ihn neben den Fortescues sitzen sehen. War er ihr gefolgt? Beobachtete er sie schon die ganze Zeit?
„Wie traurig, in so jungen Jahren zu sterben!“, seufzte er und starrte Louisas Grab an. Seine Augen glichen dem Granit des Grabmals. „Kannten Sie die verstorbene Mrs Blackmore?“
„Nein.“
Megans Antwort schien ihn zu überraschen. „Haben Sie nicht in dem Haus gewohnt, das der charmanten Familie Fortescue vermietet wurde?“
„Doch, aber ich zog zu meiner Schwester nach Taunton, bevor Mr Blackmore seine Frau nach Moor House brachte.“
„Ah, ich verstehe. Verzeihen Sie, Ma’am. Hier hört man so viele verschiedene Geschichten, dass man einiges durcheinanderbringt.“ Nicht einmal Mr Kents Lächeln konnte den stahlharten Glanz seiner grauen Augen mildern. „Zum Beispiel erfuhr ich, Mr Blackmore habe neulich einen Unfall erlitten. Im Dorf wurde behauptet, sein Leben sei gefährdet. Und wie ich heute herausfand, fuhr er ein paar Tage später nach London. Also kann die Verletzung nicht so schlimm gewesen sein.“
Sorgsam wählte Megan ihre Worte, ehe sie erwiderte: „Er hatte Glück. Genauso gut hätte es anders ausgehen können.“
„Deuten Sie etwa an – Sie glauben nicht an einen Unfall?“
Megan zuckte die Achseln.
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