Historical Saison Band 18
der Spielhölle arbeiten, fällt das nich’ weiter auf. Dafür ist es zu alltäglich. Aber ich weiß dann genau, was gemeint is’. Ich weiß, dass dann drei Abende später etwas in meiner Manteltasche landet. Wir müssen dort ’ne Livree tragen, deshalb lassen wir unsere eigenen Klamotten in einer Kammer gleich neben der Garderobe der Gentlemen. Ich sorge immer dafür, dass mein Mantel an diesen besonderen Abenden gleich neben der Tür hängt. Die meisten Gentlemen machen sich nach dem Spielen nich’ die Mühe, Ihre Mäntel und Umhänge von uns ’raussuchen zu lassen, sondern holen sie sich einfach selbst. Da is’ es das Leichteste von der Welt für einen von ihnen, die nächste Tür zu öffnen und ein Päckchen in meine Manteltasche zu schieben.“
„Und Sie ’aben keine Ahnung, wer das sein könnte?“ Der Franzose hörte sich nach wie vor misstrauisch an.
„Nein, ich hab’ keinen Schimmer!“, versicherte der andere. „Und ich sag’ Ihnen noch etwas: Ich werde auch ganz sicher nicht versuchen, es herauszufinden. Ich wurde von diesem unheimlichen dünnen Typen von Anfang an gewarnt, keine Fragen zu stellen. Ich erledige nur meine Arbeit und werde dafür bezahlt.“
Georgiana sah, wie Tate nach seinem Krug griff. Einen Augenblick später fügte er hinzu: „Ich kenne nur Sie. Und mir scheint, Sie wissen mehr als ich.“
„Ich fürchte nicht, mon ami. Der Kopf, der ’inter all dem steckt, ist offenbar sehr vorsichtig. Meine Aufgabe ist es, die Schmuckstücke zu verkaufen und das Geld, das ich dafür bekomme, ’inter einer ’olzverkleidung in einem ’aus in Dover zu verstecken. Ob die Dame, der das ’aus gehört, in die Sache verstrickt ist, weiß ich nischt, aber ich glaube kaum. Vielleicht ’at sisch der dünne Mann, der immer bei Ihnen auftaucht, gleich nebenan eingemietet. Wer weiß das schon?“
Georgiana hörte, wie ein Stuhl über den Holzboden kratzte, als sich einer der Männer erhob. „Aber wenn ich es noch bis zur Küste schaffen will und Frankreisch bis Freitag erreischen soll, muss ich mich jetzt auf den Weg machen, mon ami. Bis zum nächsten Mal …“
Georgiana beobachtete, wie der Franzose ohne eine Antwort abzuwarten das Zimmer verließ. Einen Augenblick später folgte ihm der andere. Sie atmete erleichtert auf, wenn sie auch nicht das Gefühl gehabt hatte, in besonderer Gefahr geschwebt zu haben.
Während sie darauf wartete, aus ihrem engen Versteck befreit zu werden, sann sie in Ruhe darüber nach, was sie in Erfahrung gebracht hatte. Die Unbequemlichkeit hatte sich zweifellos gelohnt. Auch wenn sie nicht herausgefunden hatte, wer hinter den Überfällen steckte, so wusste sie doch eine Menge mehr als noch eine halbe Stunde zuvor. Ja, alles in allem war es den Aufwand wert gewesen!
Erleichtert hörte sie das Knarren der Zimmertür, und einen Augenblick später drehte sich der Schlüssel im Schloss der Schranktür. „Komm ’raus, junger Mann. Der Wirt is’ heute mieser Stimmung. Wenn er dich hier erwischt, verlier’ ich bestimmt meine Arbeit.“
Nur zu gern folgte Georgiana Nell durch den schummrigen Gang hinaus auf eine Seitengasse. Als sie der Frau eine glänzende Goldmünze als Lohn zuwarf, wurde sie erneut der grässlich verfaulten Zähne ansichtig.
Da sie rasch möglichst viel Abstand zwischen sich und die heruntergekommene Taverne bringen wollte, hielt sie sich nicht lange mit Abschiedsworten auf und eilte die Gasse hinunter auf eine gepflasterte Straße. Glücklicherweise waren zu dieser späten Stunde nur wenige Leute unterwegs. Abgesehen von einem Pärchen, das sich im Schatten einer Toreinfahrt seiner Leidenschaft hingab, wirkte die Gegend wie verlassen. Nur eine einzige Mietkutsche stand genau an der Straßenecke. Wenn sie frei ist, habe ich unsagbares Glück! dachte Georgiana und ging ohne zu zögern darauf zu.
Der große Ball des Duke und der Duchess of Merton galt seit Langem als einer der Höhepunkte der Saison und hatte als solcher stets die Crème de la Crème der Gesellschaft angelockt. Das diesjährige Fest stellte keine Ausnahme dar. Ein wahrer Strom der ranghöchsten und einflussreichsten Persönlichkeiten Londons defilierte über eine Stunde lang durch den Eingang in den verschwenderisch geschmückten Ballsaal. Als Folge davon war der große Raum bald überfüllt – sehr zum Verdruss eines Gastes, der zu den zuletzt eingetroffenen Besuchern zählte. Vergeblich versuchte der hochgewachsene Gentleman, die Person, die er unbedingt treffen wollte,
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