Historical Weihnachten Band 01: Das Geschenk der heiligen Nacht / Die Winterbraut / Licht der Hoffnung
sollte.
„Campion lässt sich von nichts und niemandem aus der Fassung bringen.“
„Von ihr schon“, beharrte Stephen. Reynold war zu jung, um sich an den Tod seiner Mutter und Campions lange Totenwache in ihren Gemächern zu erinnern. Doch ihm selbst war noch gegenwärtig, wie schrecklich diese Zeit gewesen war, als sein Vater, der sonst stets einen Rat wusste, völlig hilflos und verloren dagesessen hatte. Schnell verdrängte er diese Erinnerung und trank einen Schluck. „Ich habe das schon einmal beobachtet, aber ich hätte nicht gedacht, es noch einmal zu sehen zu bekommen. Er ist seit Jahren nicht mehr aus seiner stoischen Ruhe geholt worden. Bis jetzt. Bis
sie
gekommen ist.“
Reynold schnaubte abfällig. „Du bist doch bloß beleidigt, weil die Dame von dir keine Notiz nehmen will.“
„Nun, ich muss zugeben, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht, wenn eine hübsche junge Frau mehr Interesse an meinem Vater als an mir zeigt“, gab er zurück und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Paar beim Feuer. „Ich frage mich, was sie vorhat.“
„Nichts“, konterte Reynold. „Glaubst du eigentlich, dass jede Frau irgendetwas im Schilde führen muss, wenn sie sich für Vater interessiert? Du bist doch nur dumm!“
„Er ist ein mächtiger Mann“, gab Stephen zu bedenken. „Ich dagegen bin nur ein junger Mann ohne Zukunftsaussichten.“
Wieder schnaubte Reynold. „Wenn du endlich einmal aufhören würdest, dich den ganzen Tag an deinem Weinkelch festzuklammern, dann …“
„Mach mir keine Vorhaltungen, sondern fass dir lieber an deine eigene Nase“, herrschte Stephen ihn an.
Reynold gab einen missbilligenden Laut von sich, sprang aber auf den Köder nicht an. „Vater ist für die Frauen nach wie vor ein gut aussehender Mann. Hast du nicht Marion ausführlich von ihm schwärmen hören? Nur weil er in den letzten Jahren wie ein Mönch lebte, bedeutet das noch nicht, dass er auch einer ist.“
„Ein erschreckender Gedanke“, kommentierte Stephen. „Du willst doch nicht etwa andeuten, der allmächtige Campion könnte die gleichen Bedürfnisse wie wir Sterblichen haben, oder?“
Reynold raunte ihm einen Fluch zu. „Kannst du eigentlich außer dir selbst nichts anderes wahrnehmen?“ Er sah kurz zum Kamin und dann wieder zu Stephen. „Er ist einsam, und sie ist gut für ihn. Lass die beiden in Ruhe.“ Kopfschüttelnd und mit einem finsteren Blick stand er zu Stephens Enttäuschung vom Tisch auf.
Stephen hätte es keiner Menschenseele gegenüber zugegeben, aber ihm fehlte Simon, mit dem er sich immer wunderbare Wortgefechte hatte liefern können – bis der im Wald eine schwertschwingende Amazone kennengelernt hatte. Mit Reynold, der nicht an einem Übermaß an schlechter Laune litt, machte das einfach keinen Spaß.
Was seine eigene Andeutung anging, Campion fühle das Gleiche wie weniger erhabene Wesen, so war Stephen doch eher skeptisch. Er sah zum Kamin und schüttelte den Kopf, dann trank er seinen Becher aus. Und doch hatte diese Frau den Earl aus der Fassung gebracht, daran bestand kein Zweifel. Es war der sechste Tag der Weihnacht, und Joy wurde immer gereizter. Sie merkte zwar, dass sie Campion nicht gleichgültig war, doch er benahm sich stets so tadellos, dass sich ihr keine Gelegenheit bot, seine bemerkenswerte Zurückhaltung auf die Probe zu stellen. Sie hatte auf eine weitere gemütliche Partie Schach gehofft, aber am heutigen Abend überredete er sie dazu, Blindekuh zu spielen, weshalb sie jetzt mit verbundenen Augen mitten im Saal stand und von den Mitspielern mehrere Male im Kreis gedreht wurde.
Sie lachte, als ihr für einen Moment schwindlig war, und sie spürte, wie ihre Anspannung ein wenig nachließ. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, in ihrem Zuhause bei einem derartigen Unsinn mitzumachen, doch hier auf Campion Castle nahm sogar der albernste Zeitvertreib einen magischen Schein an. Vielleicht lag es an den Feiertagen, vielleicht an der Burg. Oder an Campion selbst. Beim Gedanken an den starrsinnigen Earl musste Joy lächeln. Ziel dieses Spiels war es, einen Mitspieler aufzufinden und zu erkennen, ohne dabei die Augen zu benutzen. Sie wusste längst, nach welchem ihrer Mitspieler sie suchen wollte.
Ohne auf die lauten Zurufe derjenigen zu achten, die in ihrer Nähe waren, entfernte sie sich von der Menge, da sie wusste, Campion würde sich am Rand aufhalten, um von dort mit seinen rätselhaften Augen das Geschehen schweigend zu verfolgen.
Ganz sicher
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